Tagebuch schreiben ist mehr als nur ein Instrument gegen das Vergessen. Es ermöglicht auch die intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, was sich positiv auf die Gegenwart auswirken kann. Aber wie soll man vorgehen? Einfach anfangen zu schreiben, oder mit „Methode“? Der Beitrag zeigt eine Strategie, die den Einstieg ins Tagebuchschreiben erleichtert und zudem für mehr Text-Qualität auf lange Sicht sorgt.
Insgesamt gibt es drei Beiträge zum Thema „Tagebuch“:
Was Tagebuch schreiben leistet
Tagebuch schreiben: Minimalistischer 30-Tage-Einstieg
(dieser Beitrag)
10 Vorschläge für ein individuelles Tagebuch
Inhalt
Das tückische Tagebuch
Tagebuch schreiben? Nichts leichter als das! Irgendetwas ist schließlich immer. Dinge passieren und wenn mal nichts passiert, kann man immer noch über die aktuelle Stimmungslage schreiben. Aber ist das wirklich so? Wer sich schon einmal an dem Format versucht hat, stellt nicht selten zweierlei fest:
Zum einen ist es nicht immer einfach, am Ball zu bleiben. Nach der ersten Begeisterung setzt das edle Diarium schnell eine Staubschicht an. Zum anderen ist es oft der Fall, dass die mit enormem Eifer und größter Emotion verfassten Einträge im Nachhinein so peinlich und banal wirken, dass das erneute Lesen eher Qualen als Vergnügen bereitet. Offensichtlich ist die Sache doch nicht ganz so einfach.
In jedem Satz begegnet man nämlich sich selbst, und zwar so, wie man sich selbst auf keinen Fall begegnen möchte. Man erkennt sich als eine dröge, wehleidige, uninteressante Person, die dreist genug ist, ihren reizlosen Alltag auf vielen Seiten auszustellen.
Hans-Josef Ortheil
Wie man es besser macht
Schreiben hat viel von einem Handwerk und der Prozess, diese Fähigkeit zu entwickeln und den eigenen Stil zu finden, zieht sich über viele Jahre hin. Für den Anfang soll es in diesem Beitrag nur um zwei grundlegende Aspekte gehen:
- Wie schaffe ich es, am Ball zu bleiben und regelmäßig zu schreiben?
- Wie sollen meine ersten Eintragungen aussehen (Stil, Umfang)?
Zu Punkt eins: Die meisten Tagebücher scheitern daran, dass sie eher früher als später „einschlafen“. Punkt zwei hilft, in der ersten Begeisterung nicht gleich über das Ziel (stilistisch) hinauszuschießen. Man könnte nun allerdings einwenden, dass es eben diese stilistische Freiheit ist, die dem Tagebuchschreiben seine besondere Attraktivität überhaupt erst verleiht.
Ein begründeter Einwand. Allerdings setzt Freiheit immer ein gewisses Maß an Verantwortung voraus. Das gilt nicht zuletzt auch für Fragen der Textform. Wer sich hier frei bedienen will, sollte entsprechend verantwortungsvoll – d. h. sicher – mit den jeweiligen Techniken umgehen können.
Ich empfehle deshalb, gerade am Anfang nicht zu viel auf einmal zu wollen. Entsprechend spartanisch fallen die ersten Aufzeichnungen – wie im nächsten Abschnitt erläutert – dann auch aus.
Der minimalistische 30-Tage-Einstieg
Vielleicht stellt sich ja irgendwann heraus, dass man den Rest seines Lebens Tagebuch schreiben und diese Niederschrift in zehn Bänden und zwanzig Sprachen für die begeisterte Nachwelt veröffentlicht wird. Oder man muss sich relativ schnell eingestehen, dass man mit der Schreiberei einfach nichts anfangen kann und lieber auf Instagram aktiv ist.
Wie auch immer. Eines ist jedenfalls sicher: Es braucht kein schickes, in Leder gebundenes Premium-Notizbuch um mit dem Tagebuchschreiben zu beginnen. Für einen ersten Einstieg genügt schon ein ganz gewöhnlicher Kalender bzw. Terminplaner.
Tagebuch schreiben auf die minimalistische Weise
Das Ganze funktioniert folgendermaßen: Täglich wird zu einem festgelegten Zeitpunkt in einigen kurzen Stichwörtern notiert, was den Tag über an erinnerungswerten Dingen passiert ist. Keine langen Sätze und emotionalen Ausschweifungen. Stattdessen: Dinge sachlich auf den Punkt bringen, Abkürzungen verwenden, eine Auswahl treffen.
Auch auf Wertungen und episches Ausbreiten der eigenen Stimmung ist bei unserem Einstieg tabu. Es geht für den Anfang ausschließlich um die kompakte Darstellung der äußeren Welt und deren Ereignisse.
Eine Zeile, einige Stichworte – fertig!
Für diesen Einstieg genügt bereits ein Kalender, selbst wenn er nur eine Zeile pro Tag zur Verfügung stellt. Dieser Minimalismus mag hart wirken. Für einen späteren Zeitpunkt steht natürlich jedem frei, ein anderes Medium, das mehr Raum hergibt, zu verwenden. Vorab ist es aber genau diese Beschränkung, die entscheidende Vorteile bringt.
Regelmäßig Tagebuch schreiben:
Weniger ist mehr!
Diese Kombination aus dem sogenannten Schreibkalender und der minimalen Chronik bringt eine Reihe von Vorzügen mit sich.
Knappheit nimmt Druck
Es wird vermieden, dass man sich mit einer überzogenen Erwartungshaltung unter Druck setzt. An „Standard-Tagen“ könnte sich schnell Frustration breit machen: „Was soll ich denn heute bloß schreiben? Arbeiten, Erledigungen – mal wieder business as usual. Mein Leben ist aber auch wirklich langweilig!“ Jeden Tag umfangreiche Notizen ins Tagebuch zu schreiben würde zudem Unmengen an Zeit kosten.
Eine kleine Momentaufnahme pro Tag, nur in Stichworten erfasst, dürfte dagegen kein Problem sein. Ein weiterer positiver Effekt stellt sich ein. Das Schreiben setzt einen bewussten Rückblick auf den vergangenen Tag voraus. Was war heute erwähnenswert? War irgendetwas anders als sonst? Was ist es wert, vor dem Vergessen geschützt zu werden?
Beschränkung auf das Wesentliche bedeutet:
Blick für das Besondere trainieren
Es dürfte klar geworden sein, welchen Nutzen die räumliche Knappheit des Tagebuch-Eintrags im Kalender mit sich bringt: Die erzwungene Beschränkung auf das, was wirklich erinnernswert erscheint. Dadurch, dass man sich auf das Allernotwendigste reduziert, trainiert man die Wahrnehmung und vermeidet zudem ein überzogenes „Um-sich-selbst-Kreisen.“
Natürlich kann es passieren, dass es wirklich einen außergewöhnlichen Moment gab, der alles andere überstrahlt hat. In der Regel wird sich die Sache nicht ganz so spektakulär darstellen und ein bewusster Blick, der den vergangenen Tag Revue passieren lässt, notwendig. Und dieser Blick macht den Unterschied zwischen dem alltäglichen Blabla und dem, was wirklich erinnerungswürdig ist.
Letztendlich sollte man sich auf keinen Fall selbst unter Druck setzen. Wenn es nun mal ein Standardtag ohne Höhen und Tiefen war, dann ist das nun mal so. In diesem Fall beschränkt man sich einfach sachlich auf die Eckdaten des Tagesverlaufs.
Johann Wolfgang von Goethe praktizierte ebenfalls eine knappe und nüchterne Darstellung im Sinne einer kühlen Dokumentation (hier ein Beispiel). Obwohl Goethes Tage prall mit Ereignissen und Aufgaben gefüllt waren, bleibt er konsequent beim Stil einer nüchternen Chronik.
Was letztendlich als erinnerungswürdig eingestuft wird, bleibt jedem selbst überlassen. An sich ist hier alles denkbar und erlaubt. Entscheidend ist die knappe und neutral-distanzierte Form. Keine Sorge: Später kann man diese nach Belieben erweitern.
30 Tage mit Erinnerungsfunktion
Für insgesamt 30 Tage gilt es nun, diese Dokumentation fortzuführen. Ideal wäre ein fester Zeitpunkt wie z. B. abends vor dem Schlafengehen. Vielleicht hilft es, eine Erinnerung auf dem Smartphone einzurichten. Oder die Schreibutensilien so bereitlegen, dass man sie nicht übersehen und dadurch auch nicht vergessen kann.
Zudem kann es auch nicht schaden, wenn man bereits im Tagesverlauf die Augen offen hält. So betrachtet findet bereits in dieser frühen und nur rudimentären Phase des Tagebuchschreibens eine Wechselwirkung mit unserer Wahrnehmung statt. Im Idealfall wird unser „Autopilot“ aus Routine und gefestigten Vorstellungen ab und zu deaktiviert und wir beginnen, uns und unsere Umwelt bewusster wahrzunehmen.
Wie geht es weiter?
Wenn die 30 Tage um sind, hat sich – auch ohne endlos lange Textwüsten – eine ganze Menge getan:
- Man ist für einen ganzen Monat am Ball geblieben; eine Schreibroutine wurde etabliert.
- Das tägliche Erinnern an die vergangenen Ereignisse schützt die Momente, die uns wichtig sind, vor dem Vergessen.
- Ein geschärfter Blick für die Welt, die uns umgibt, durchbricht alltägliche Routine und Monotonie.
- Nach 30 Tagen haben wir einen neutral-nüchternen Grundstock an Erinnerung, die in einem nächsten Schritt ausgebaut werden kann.
Fazit:
Die im Beitrag vorgestellte Methode ist definitiv nicht die hohe Kunst des Tagebuchschreibens. Allerdings hilft sie dabei, die ersten Hürden des Genres zu nehmen. Gerade weil wir beim Schreiben eines Tagebuchs vollkommen freie Hand haben, ist das Format nicht ohne!
Wer die ersten 30 Tage seine minimalistische Kalender-Chronik geführt hat, kann sich anschließend diese Notizen vornehmen und sie schrittweise mit weiterführenden Techniken des Tagebuchschreibens ausbauen. Eine Auswahl an Techniken stelle ich in einem der folgenden Beiträge vor.