Jeden Tag sind wir aufs Neue mit einer kaum überschaubaren Flut an Texten konfrontiert. E-Mails, Zeitschriften, Bücher, Protokolle und Fachartikel – sie alle verschlingen Unmengen an Zeit. Speedreading verspricht die Lösung dieses Problems. Im folgenden Beitrag zeige ich, wie man in kürzester Zeit die Lesegeschwindigkeit durch Schnell-Lesen deutlich erhöht und gleichzeitig das Textverständnis erhalten kann.
Inhalt
Sofort schneller lesen: Speedreading als Waffe gegen die Informationsflut
Wer kennt das nicht: Täglich wird ein Kampf mit Unmengen an Mails, Artikeln und allen möglichen Textformen ausgefochten. Im Regal steht schon seit Monaten das ungelesene Fachbuch. Natürlich möchte man im Job auf einem halbwegs aktuellen Informationsstand sein. Allerdings scheitert man schon am Abo der Tageszeitung, die viel zu oft ungelesen bleibt.
Das letztgenannte Beispiel mag ein Luxusproblem sein. Für das Heer der „Wissensarbeiter“ vom Studierenden über den Verkäufer bis hin zum Manager ist es allerdings eine elementare Herausforderung, die alltägliche Textflut zu meistern. Aber wie soll das funktionieren?
Naheliegend ist die Idee, einfach schneller zu lesen. Diese Strategie wird als Speedreading oder Schnell-Lesen bezeichnet und verspricht deutlich höheres Lesetempo bei zugleich besserem Textverständnis. Sogar die Merkfähigkeit soll profitieren. Schauen wir uns diese Versprechen etwas genauer an.
Speedreading bringt Zeitersparnis!
Keine Frage: Schneller Lesen bedeutet mehr Zeit. Wer schneller liest, nimmt mehr Informationen in kürzerer Zeit auf. Eine Steigerung der Geschwindigkeit von 50 bis 100 Prozent sollten für nahezu jeden problemlos erreichbar sein – so das Versprechen. Sogar mehrere Hundert Prozent sind, je nach Ausgangsgeschwindigkeit, zu erreichen. Was bedeutet das für die Praxis?
Exemplarisch zeige ich hier die monatliche Zeitersparnis bei unterschiedlichen Steigerungsraten der Lesegeschwindigkeit. Es wird von einer Stunde Lesezeit pro Tag ausgegangen.
Steigerung um 50% | 10 Stunden/Monat |
Steigerung um 75% | 13 Stunden/Monat |
Steigerung um 100% | 15 Stunden/Monat |
Es ist beeindruckend, wie viel zusätzliche Zeit durch die gesteigerte Lesegeschwindigkeit gewonnen wird. Vor allem wenn man bedenkt, dass viele Menschen deutlich mehr als nur eine Stunde am Tag lesend verbringen.
Die möglichen Steigerungen hängen allerdings entscheidend davon ab, wie schnell man momentan bereits liest. Wer tendenziell eher zur Gruppe der Schnell-Leser gehört, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nur geringere Zuwächse erreichen können.
Langsames Lesen ist oft kontraproduktiv
Man könnte nun kritisch anmerken, dass schneller lesen ja schön und gut ist. Aber was bringt es, wenn man danach keinen Plan von dem Gelesenen hat und sich den ganzen Text erneut vornehmen muss? Folgendes Zitat wird Woody Allen zugeschrieben:
Klar. Speedreading bringt rein gar nichts, wenn ich am Ende von dem Gelesenen keinen Plan habe. Nur wenn man den Text weitestgehend verstanden hat, ist das Lesen im Turbo-Modus ein echter Gewinn. Tatsächlich ist das möglich. Es ist ein Irrtum, dass langsames Lesen automatisch zu besserem Textverständnis oder Erinnern führt.
Prinzipiell ist unser Gehirn dazu in der Lage, deutlich schneller geschriebene Informationen aufzunehmen, als normalerweise gesprochen wird. Wer sich beim Lesen unbewusst an der normalen Sprechgeschwindigkeit orientiert, unterfordert somit sein Gehirn.
Und genau diese Unterforderung ist problematisch. Sie führt nämlich nicht etwa dazu, dass man sich die Inhalte besser einprägt oder den Text besser versteht.
Schneller lesen und automatisch besser verstehen?!
Schneller Lesen wirkt sich dagegen günstig auf Motivation und Konzentration aus. Daraus resultiert: Immer, wenn man etwas lesen muss, sollte man ruhig ein wenig aufs Gas drücken und das Ganze zu einer konzentriert-eiligen Herausforderung machen. So spart man Zeit und verinnerlicht den Text besser.
Allerdings sollten hier keine falschen Erwartungen aufkommen. Immer wieder liest man, dass höheres Lesetempo per se zu besserem Textverständnis führen würde. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Fehlinterpretation einer Aussage von Evelyn Wood.
Wood ist die amerikanische Speedreading-Pionierin. In ihrer Funktion als „Girls‘ Counselor“ an einer High School richtete sie ein Leseförderprogramm ein.
Offensichtlich bestand ein Zusammenhang zwischen Lesetempo und dem Textverständnis. Allerdings kann man nicht sagen, dass alleine schnelleres Lesen die Ursache ist!
Vielmehr muss man davon ausgehen, dass die langfristige Maßnahme des Leseförderprogramms sich positiv auf die gesamte Lesekompetenz (Lesetempo und Verständnisgrad) ausgewirkt hat.
Fazit: Mit Motivation und Konzentration die Lesegeschwindigkeit moderat anzuheben dürfte erfolgversprechend sein. Einfach doppelt so schnell über die Zeilen fliegen und als Bonus alles auch noch besser verstehen, ist Wunschdenken.
Was man vom Speedreading erwarten kann
Die meisten „normalen“ Leser schaffen eine Lesegeschwindigkeit, zwischen 100 und 500 Wörtern pro Minute (wpm). Je nachdem wie häufig man liest, bewegt man sich etwas über oder unter dem Mittelwert von 250 wpm. Der Bevölkerungsschnitt liegt vermutlich eher bei 200 wpm (vgl. Rösler 2016: 2f).
Es stellt sich die Frage, warum so viele Menschen lediglich mit einer Geschwindigkeit von etwa 200 wpm vor sich hindümpeln. Ursache sind hier, neben fehlender Übung, selbstverursachte Lesebremsen.
Lesebremsen verhindern schnelleres Lesen
Obwohl die Fähigkeit des Sehens für Mensch elementar und intuitiv ist, setzen wir unsere Augen ganz besonders beim Lesen suboptimal ein. Wir verschenken jede Menge an Potenzial, indem wir die Möglichkeiten unserer Augen nicht ausschöpfen. Sie sind deutlich schneller und aufnahmefähiger, als wir denken.
Eine These lautet, dass inneres Mitsprechen (Subvokalisierung) des Textes die Lesegeschwindigkeit bremst. Trotzdem ist es möglich, auch mit dieser „inneren Stimme“ nahe an 600 wpm heranzukommen. Dann ist aber auch schon das Ende der Fahnenstange erreicht(vgl. Rösler 2016). Ohne die limitierende innere Stimme und mit optimierter Lesetechnik, lassen sich weitere Steigerungen realisieren:
Wie so oft in der Welt des Schnell-Lesens gehen hier die Meinungen etwas auseinander. Tony Buzan vertritt die These, dass das Gehirn auch problemlos 2.000 wpm subvokalisieren könne. Zudem sei sie nie ganz auszuschalten; man müsste sich eher vorstellen, dass sie mehr in den Hintergrund tritt (vgl. Buzan 2019: 179f).
Unglaubliche Leistungen der „natürlichen“ Schnell-Leser
Was aber ist nun mit den „natürlichen“ Schnell-Lesern; also Personen, die auch ganz ohne Training zwischen 1.500 und sagenhaften 6.000 Wörtern pro Minute lesen und vor allem auch erinnern können?
Deutlich weniger als ein Prozent der Bevölkerung besitzen diese Fähigkeit; teilweise handelt es sich um eine Inselbegabung. Ein prominenter Vertreter dieser Gruppe ist der im Jahr 2009 verstorbene Autist Kim Peek, der die reale Vorlage für den Film Rainman lieferte.
Peek konnte innerhalb weniger Sekunden zwei (!) Buchseiten komplett verinnerlichen. Der oben verlinkte Wiki-Artikel zu ihm ist auf jeden Fall lesenswert – auch weil er deutlich macht, dass es nicht sonderlich sinnvoll ist, die Person Peeks als Referenz für die eigenen Schnelllese-Bemühungen heranzuziehen.
Wer Interesse an Speedreading-Techniken hat muss sich eines klarmachen: Auch hier wachsen die Bäume nicht in den Himmel und viele Versprechen von Seminaranbietern (nach zwei Tagen 4.000 Wörter pro Minute lesen etc.) sind pures Wunschdenken zwecks Kundenfang.
Fest steht: Je schneller die Lesegeschwindigkeit werden soll, desto aufwendiger und komplexer werden die Trainings- und Lesetechniken.
Schneller Lesen: Zwei Formen Speedreading
Menschen mit einer Lesegeschwindigkeit jenseits von 1.500 wpm erfassen mehrere Zeilen oder im Extremfall ganze Seiten mit einem Blick; man verwendet hier oft die Analogie des Scannens. Wie ich finde, müsste man eher von einem Abfotografieren sprechen, da Scanner (wie normal lesende Menschen) Zeile für Zeile einlesen/digitalisieren.
Wer vom klassischen Lesen zum Seiten-Scannen – man nennt dies auch optisches Lesen („großes Schnell-Lesen“) – kommen will, muss über mehrere Monate viele Stunden Training investieren. Demgegenüber liegt die Erfolgsquote nur bei etwa 50 Prozent (vgl. Rösler S. 3).
Aus den genannten Gründen behandelt mein Beitrag nur das optimierte „normale“ Leseverhalten und das optische Zeilenlesen. Bei Letzterem sind im Idealfall bis zu 900 wpm möglich. Diese Technik wird auch als „kleines Schnell-Lesen“ bezeichnet.
Wer schnell große Mengen an Literatur sichten muss – und zugleich möglichst viel davon erinnern will – wäre mit 600 gelesenen Wörtern pro Minute schon ziemlich flott unterwegs. 15 bis 20 komplette Bücher in einer Woche ist ohne Frage eine beachtliche Leistung.
Schneller lesen: drei entscheidende Dimensionen
Wer schneller Lesen will, sollte sich mit drei Bereichen vertraut machen. Diese drei „Dimensionen“ des Speedreadings sind die grundlegenden Stellschrauben der Lese-Optimierung. Konkret handelt es sich um:
- Rahmenbedingungen der Lesesituation
- Konzentration auf den Kontext
- Lesetechnik
Zu den Rahmenbedingungen der Lesesituation zählt zum Beispiel die Geräuschkulisse, Beleuchtung sowie die Gestaltung der Lese-Umgebung im weitesten Sinne. Auch sollte gewährleistet sein, dass die Sehkraft nicht eingeschränkt und vielleicht eine Lesebrille notwendig ist.
Konzentration dürfte selbsterklärend sein. Leider hapert es oft genau an diesem Aspekt, wenn man sich nur widerwillig mit dem Lesestoff auseinandersetzt bzw. die Gedanken bei gänzlich anderen Themen sind. Wer schnell lesen und möglichst gut verstehen bzw. erinnern will, braucht ein Höchstmaß an Konzentration. Ablenkungen und Störquellen sind – soweit man diese beeinflussen kann – auszuschalten.
Beim Punkt Lesetechnik geht es darum, sich von „technischen“ Lesebremsen zu verabschieden, die ihren Ursprung in der Grundschulzeit haben und entsprechend hartnäckig verwurzelt sind. Zu den ersten beiden Bereichen sollen noch eigene Beiträge folgen; hier möchte ich den Schwerpunkt auf die technische Seite des Lesens legen.
Tipps für optimales Speedreading
Bevor man sich mit den neuen Lesetechniken und Optimierungsmöglichkeiten beschäftigt, ist es sinnvoll, die gegenwärtige Lesegeschwindigkeit zu ermitteln.
Dafür bietet sich ein durchschnittlich anspruchsvoller Text an. Man liest beispielsweise zwei bis drei Seiten in einem Roman und stoppt die benötigte Zeit sekundengenau. Anschließend zählt man die gelesenen Wörter. Die Leseleistung in Wörtern pro Minute ergibt sich folgendermaßen:
Zur Orientierung: Als normale Lesegeschwindigkeit gelten 150 bis 250 wpm. Diese Messung wiederholt man mit einem vergleichbaren Text, in regelmäßigen Abständen. So lässt sich leicht feststellen, ob die Techniken des Schnell-Lesens funktionieren und wie groß die Fortschritte sind.
Speedreading lernen:
Techniken für schnelleres Lesen
Um den Lesevorgang auf einer „technischen“ Ebene zu optimieren, müssen wir zuerst verstehen, wie Lesen überhaupt funktioniert. Wie sich zeigen wird, besteht hier in den meisten Fällen Optimierungs-Potenzial. Geschwindigkeitssteigerungen von über hundert Prozent können durchaus erreicht werden – wenn die ursprüngliche Lesegeschwindigkeit im durchschnittlichen Bereich (200-250 wpm) lag.
Wie Lesen funktioniert
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Augen sich in einer „gleitenden“ Bewegung über den Text bewegen. Dem ist aber nicht so. Die Augen machen stattdessen mehr oder weniger regelmäßige Sprünge, die man als Fixationen oder Fixierungen bezeichnet. Während die Augen von Fixierungspunkt zu Fixierungspunkt springen, sind sie für den Text blind.

Pfeile symbolisieren die Sakkaden; „X“ steht für Fixationen
Von einer fließenden Augenbewegung und entsprechend gleichmäßiger Informationsaufnahme kann somit keine Rede sein. Zusätzlich kommt es immer wieder zum Zurückspringen im Text.
Bei einem schlechten Leser kommt es vermutlich öfter vor, dass er ein Wort nicht auf den ersten Blick erkennt. Im schlimmsten Fall muss Buchstabe für Buchstabe erfasst werden. Bei schlechter Konzentration müssen immer wieder ganze Sätze oder sogar Absätze wiederholt werden.
Was bedeutet das Gesagte für die Lesegeschwindigkeit? Die Augenbewegungen („Sakkaden“) zwischen den einzelnen Fixationspunkten erfolgen relativ schnell: Durchschnittlich betragen sie nur 30 Millisekunden. Dem stehen die Fixationen mit durchschnittlich 200 bis 250 ms gegenüber.
Kurz gefasst: Wer schneller lesen will, muss das Zurückspringen vermeiden und die Fixationszeiten verkürzen. Weitere Steigerungen gelingen, wenn mehrere Wörter mit einer Fixation erfasst werden.
Zurückspringen vermeiden
Wer bewusst auf das Zurückspringen verzichtet, kann seine Lesegeschwindigkeit schon deutlich anheben. Es ist keine Seltenheit, dass im Durchschnitt zweimal pro Zeile zurückgesprungen wird, was etwa einer Sekunde zusätzlichem Zeitaufwand entspricht.
Wenn die Texte nicht zu kompliziert sind, ist es für ein ausreichend gutes Verständnis in der Regel nicht notwendig, jedes Wort zu erfassen. Die relevanten Informationen können trotz eines gewissen Schwunds erfasst werden.
Auch für die Motivation und das Verständnis ist höhere Geschwindigkeit oft hilfreich: Zwar wird immer wieder gesagt, man müsse langsam und gründlich lesen, um einen Text angemessen zu verstehen.
Aber mal im Ernst: Was ist nerviger als sich im Schneckentempo durch dicke Wälzer zu quälen? Während die Zeit verrinnt, sinkt die Motivation und die Gedanken schweifen ab. Nicht gerade effizient, oder?
Fixierungszeit verkürzen
Wie bereits gesagt kann das Auge nur während der Fixierungspunkte Informationen an das Gehirn weitergeben. Geübte Leser haben eine Fixationsdauer von durchschnittlich 200 bis 250 Millisekunden.
Je nach spezieller Situation (z. B. lange oder unbekannte Wörter; schlechte Formatierung des Textes) kann diese Zeitspanne sehr unterschiedlich lange ausfallen. Zeitspannen von 100 bis 500 ms sind nicht ungewöhnlich (vgl. Rösler 2016: 9).
Tatsächlich sind Menschen dazu in der Lage, ein Wort noch bei einer Fünfhundertstelsekunde zu erkennen (vgl. Buzan 2019: 15). Durch die bewusste Verkürzung der Fixierungen lässt sich somit schon ein deutlicher Geschwindigkeitszuwachs erreichen.
Blickspanne erweitern
Kinder, die lesen lernen, kämpfen sich zu Beginn Buchstabe für Buchstabe durch ein Wort. Irgendwann erkennt das Kind ganze Wörter auf einen Blick und die Lesegeschwindigkeit steigt rapide an.
In der zuvor eingeführten Terminologie bedeutet das nichts anderes, als das es zu einer Erweiterung des Blickfeldes gekommen ist und entsprechend weniger Sprünge und Fixierungen notwendig waren. Die meisten Menschen bleiben dann auch auf diesem Niveau.
Zwar kommt es vor, dass während des Studiums, sei es wegen des Drucks und/oder Motivation, schneller gelesen wird. Die meisten Menschen fallen aber früher oder später wieder auf ein Niveau zurück, das nach der Grundschule erreicht wurde.
Wer schneller lesen möchte, muss genau die Lernschritte aus der Grundschulzeit (einzelne Buchstaben – ganze Wörter) auf das nächste Level heben. Und das bedeutet nichts anderes, als ganze Wortgruppen zu erkennen.
Für den Anfang wäre hier schon viel gewonnen, wenn es regelmäßig gelingt, mindestens zwei Wörter zusammen zu erfassen. Auf jeden Fall sollte man versuchen, die Augen bewusst nicht auf den Satzanfang, sondern etwa auf den Beginn des zweiten Wortes zu richten.
In (eigenen!) Büchern kann man zu Trainingszwecken zwei oder drei vertikale Linien mit einem Bleistift einzeichnen, die als Orientierungspunkte für die Augen dienen. So kann man an einer erweiterten Blickspanne arbeiten und komplette Zeilen mit weniger Fixationen lesen.
Lesehilfe benutzen
Eigentlich legen doch nur Kinder den Finger beim Lesen auf das Blatt; wer beim Lesen einen Finger als Hilfsmittel benutzt, wirkt nicht unbedingt wie ein routinierter Leser.
Was Kinder intuitiv als hilfreich und somit richtig erkennen, soll im Laufe der Zeit wieder abgelegt werden – wer will schon „wie ein Kind“ wirken? Tatsächlich kommt es den Augen sehr entgegen, wenn sie mit einer Lesehilfe an die Hand genommen werden.
Das Argument, dass die Lesegeschwindigkeit leiden könnte, ist Unfug. Man kann einen Stift, der als Lesehilfe/Zeiger dient mit beachtlicher Geschwindigkeit über einen Text gleiten lassen. Definitiv deutlich schneller, als man in der Regel lesen kann (ausgenommen die spezielle Gruppe der natürlichen Schnellleser).
Die richtige Lesehilfe
Da die eigenen Finger zu dick sind und in Kombination mit der restlichen Hand zu viel von der Seite abdecken, bieten sich schmale und ausreichend lange Gegenstände wie z. B. ein Bleistift oder ein Essstäbchen an.
Die Lesehilfe wird dann einfach unter der gerade gelesenen Zeile entlang geführt. Dabei sollte man nicht versuchen, in einer ruckartigen Bewegung von Fixierungspunkt zu Fixierungspunkt wandern. Das Gehirn erkennt diese Punkte intuitiv (vgl. Buzan 2019: 92).
Alternativ kann auch ein Lineal oder ein Blatt Papier als Lesehilfe dienen. Diese werden dann direkt unter der gerade gelesenen Zeile positioniert und immer weitergeschoben.
Die innere Stimme „ausschalten“?
Bei der Recherche zum Thema schneller Lesen findet sich immer wieder der Tipp, die innere Stimme abzuschalten. Das macht natürlich Sinn, da einige Autoren das innere Mitsprechen für die Begrenzung der maximalen Lesegeschwindigkeit auf etwa 600 Wörter pro Minute verantwortlich machen.
Bis zu diesem Wert kann man das Mitsprechen im Geist hochtrainieren. Soll die Geschwindigkeit dann noch weiter ansteigen, muss die interne Quasselstrippe verstummen. Also einfach mal schnell die innere Stimme abschalten.
Einfach abschalten?! Vielleicht gibt es ja Menschen, die den dafür vorgesehenen Schalter genau kennen und problemlos umlegen können. In der Praxis ist das jedoch deutlich komplizierter.
Die Fähigkeit einen Text zu verstehen hängt eng mit dieser inneren Stimme zusammen. In gewisser Weise lesen wir uns selbst lautlos den Text vor und verstehen ihn deshalb erst. Das Ganze ist mit einem „inneren Hörbuch“ vergleichbar. In dem Moment, in dem man das interne Geschwindigkeitslimit (Rauding Rate) überschreitet, geht dies massiv auf Kosten des Textverständnisses.
Höhere Geschwindigkeiten bringen erst dann Nutzen, wenn man den Text immer noch gut versteht. Wer die Blickspanne erweitert und so mehrere Wörter einer Zeile mit einem Blick wahrnimmt, überschreitet bereits die magische Grenze von 600 wpm. Entsprechend besteht die Gefahr, den Text nicht mehr richtig zu verstehen.
Um die innere Stimme verstummen zu lassen, müssen tatsächlich die normalerweise am Leseprozess beteiligten Hirnareale „heruntergeregelt“ werden. Wenn Schnell-Leser mit normaler Geschwindigkeit lesen, unterscheidet sich deren Hirnaktivität nicht von den Normallesern. Entfällt das innere Mitsprechen, verändert sich, wie erwartet, die Aktivität in einigen Hirnarealen (vgl. Rösler 2016: 181f).
Die Vorstellung weniger Aktiver Hirnareale passt wiederum gut zu der Eingangs erwähneten These von Buzan, die das Subvokalisieren eher unproblematisch sieht. Bei höheren Lesegeschwindigkeiten tritt es einfach mehr in den Hintergrund. Und beeinträchtigt somit auch nicht die Geschwindigkeit (vgl. Buzan 2019: 179f).
Wie man Schnell-Lesen trainiert
Wer bisher an jedem Wort im Text geklebt hat um den Inhalt optimal in sich aufzusaugen (und dabei hin und wieder vor Langeweile eingeschlafen ist) kann mit den genannten Techniken sofort eine merkliche Steigerung der Lesegeschwindigkeit erreichen.
Um das eigene Potenzial wirklich auszureizen und langfristig schneller lesen zu können, braucht es allerdings regelmäßiges Training. Die gute Nachricht: Für das „kleine Schnell-Lesen“, bei dem das innere Mitsprechen bis an die maximale Grenze beschleunigt wird, genügen schon zwei bis drei Wochen.
Geht man von einer ursprünglichen Lesegeschwindigkeit von 250 Wörtern pro Minute aus, ist eine Steigerung auf z. B. 450 wpm schon ganz ordentlich.
Schneller Lesen – keine zu anspruchsvollen Texte fürs Training!
Es macht definitiv keinen Sinn, zu schwierige Texte zu verwenden. Finger weg von Adorno und Nietzsche, wenn es um ein technisches Lesetraining für mehr Geschwindigkeit geht!
Populärwissenschaftliche Texte oder Zeitungsartikel bieten sich an. Wenn der Text feststeht, stellt man einen Timer auf 10-15 Minuten. Für diese Zeit versucht man bewusst schnell zu lesen (schnelle Fixationen, Wortgruppen erfassen, kein Zurückspringen).
Das Ganze wird zwei- bis dreimal pro Tag durchgeführt. Mindestens einmal pro Woche sollte man dann eine Geschwindigkeitsmessung vornehmen, um die Fortschritte zu dokumentieren.
Lesetempo und Textverständnis
Man kann moderat beginnen und dann nach und nach die Geschwindigkeit anziehen. Die Geschwindigkeit wird dabei vom Textverständnis bestimmt. Tritt merklicher Verständnisverlust ein, ist die Geschwindigkeit entsprechend zu reduzieren.
Mittelfristig (d. h. in zwei bis drei Wochen) sollte sich auch bei höheren Geschwindigkeiten zwischen 400 und 500 wpm gutes Textverständnis zeigen.
Es ist dabei nicht zwingend notwendig, irgendwelche Tests bezüglich des Textverständnisses zu machen. Normalerweise kann man relativ gut einschätzen, ob man einen Text angemessen verstanden hat.
Fazit und Kritik
Die Verheißung unglaublicher Lesegeschwindigkeiten, die im Rahmen eines Wochenendseminars oder mit den Tipps eines Erklärfilmchens versprochen werden, sind sehr kritisch zu sehen.
Angenommen es wäre mit geringem Aufwand erlernbar, 1.500 Wörter pro Minute zu lesen. Die aktuelle Weltmeisterin schafft über 4.000 wpm; insofern scheint so ein Wert nicht gänzlich unrealistisch zu sein.
Was die Anbieter von Wochenendseminaren verschweigen, ist der enorme Trainingsaufwand und die bescheidene Erfolgsquote von Schnell-Lesen, das die Grenze von 600 wpm überschreitet. Faktisch muss eine komplett neue Form des Lesens erlernt werden.
Neben dem regelmäßigen Training ist der Aspekt der Motivation nicht zu unterschätzen. Die Trainingseinheiten müssen wie bereits beschrieben nicht ewig lange dauern. Es sollte aber immer der Wille und die Motivation zum etwas schnelleren Lesen vorhanden sein.
Wer sich bereits zwischen 400 und 500 wpm bewegt, befindet sich bereits dicht an dem, was auf konventionellem Weg zu erreichen ist. Will man mehr, muss man auf fortgeschrittene Trainingstechniken des flächigen Sehens wechseln.
Letztere würden hier den Rahmen sprengen. Zudem sollte man diese Techniken auch selbst beherrschen, wenn man sie anderen ans Herz legen möchte. Ich bin mit meiner Lesegeschwindigkeit zwischen 400 und 450 wpm jedenfalls zufrieden 😉
Literatur:
- Buzan, Tony (2013): Speed Reading. Schneller lesen – Mehr verstehen – Besser behalten, 6. u. erw. Aufl. 2019, München: Münchener Verlagsgruppe GmbH.
- Rösler, Peter (2016): Grundlagen des Schnell-Lesens, Düsseldorf: exclam! Verlag.