In den modernen Industrienationen ist ein großer Teil der alltäglichen Ereignisse und Handlungen in ein zeitliches Korsett gepresst, dass von der Uhrzeit bestimmt wird. Zwar profitieren die Kulturen, die den Chronografen so viel Macht über ihr Leben geben, durch nie zuvor da gewesenen Wohlstand. Die Kehrseite der Medaille äußert sich in permanentem Stress und Phänomenen wie der Eilkrankheit. Der auf Robert Levine zurückgehende Lösungsansatz der „Multitemporabilität“ versucht, Uhrzeit und Ereigniszeit zu versöhnen.
Inhalt
Ereigniszeit vs. Uhrzeit
Keine Frage: In den wirtschaftlich hoch entwickelten und wohlhabenden Nationen und Kulturen spielt die exakte Erfassung und Taktung der Zeit eine ganz besondere Rolle. Uhren bestimmen, wann wir morgens aufstehen, wann wir arbeiten, essen oder uns erholen dürfen.
Für die Menschen aus unserem Kulturkreis ist die Macht der Uhren Normalität. Umso erstaunlicher in Anbetracht der Tatsache, dass es für den Menschen über die vielen Jahrtausende seiner Evolution genau umgekehrt verlief: Die Ereignisse bestimmten überwiegend die verwendete Zeit.
Offensichtlich gibt es zwei gänzlich unterschiedliche Formen, wie Menschen sich gegenüber dem abstrakten Konstrukt „Zeit“ positionieren. Zum einen die Ausrichtung an den alltäglich stattfindenden Handlungen und Ereignissen (Ereigniszeit). Zum anderen eine entkoppelte Zeit, die zunehmend die Kontrolle über die Ereignisse übernimmt (Zeit der Uhren oder einfach nur Uhrzeit). Schauen wir uns deshalb die beiden Konzepte, mit ihren Vor- und Nachteilen, genauer an.
Das (gefährliche) Leben in der Ereigniszeit
Für unsere frühen Verwandten stellte sich keine Fragen nach Kranken- und Lebensversicherungen oder der sicheren Rente. In erster Linie ging es nur darum, den gegenwärtigen Tag gut hinter sich zu bringen. Ausreichend Essen finden und selbst nicht gefressen werden, standen ganz oben auf der To-do-Liste unsere Vorfahren. Nicht zu vergessen natürlich die Weitergabe der Erbinformationen (= Sex) und die Versorgung des Nachwuchses.
Ein schneller Tod durch Raubtiere, Krankheiten, Hunger oder auch andere Menschen war allgegenwärtig. Menschen sind nun mal, im Vergleich zu Säbelzahntigern und Mammuts, ziemlich schwach und verletzlich. Das Mängelwesen Mensch konnte nur im Team überleben. Soziale Strukturen und Sprache bildeten sich heraus. Letztendlich mussten die Menschen ihre schwächlichen Körper durch Teamwork und geistige Fähigkeiten kompensieren.
Unsere frühen Vorfahren machten sich nur wenige Gedanken um den folgenden Tag. Ereignisse im Hier und Jetzt bestimmten das Handeln. Die Menschen waren somit stark gegenwartsorientiert oder negativ ausgedrückt: zeitlich kurzsichtig. Diese Form des Lebens im Zeitfluss wird als Ereigniszeit bezeichnet. Und dafür ist, wie bereits erwähnt, ein hoher Preis in Form permanenter und potenziell lebensbedrohlicher, Gefahren zu zahlen.
Die Uhren übernehmen die Kontrolle
Waren bei den ersten Menschen vor allem der Tag- und Nachtzyklus das prägende zeitliche Element, erweiterte sich im Laufe der Menschheitsgeschichte der zeitliche Horizont: Die Abfolge der Jahreszeiten wurde erkannt und bewusst für die Landwirtschaft genutzt. Anhand des Laufs der Gestirne konnten Kalender entwickelt werden, die immer genauer wurden.
In einer Phase des Übergangs gab es für die meisten Menschen nur eine grobe zeitliche Orientierung durch mehr oder weniger exakte Instrumente zur Zeitmessung. Sand-, Sonnen- und Wasseruhren bedienten das zunehmende Bedürfnis nach gemessener Zeit. Bereits im Mittelalter regelte der Glockenschlag eine Vielzahl gesellschaftlicher Ereignisse, wie z. B. die Zeiten, wann die Stadttore geöffnet oder geschlossen wurden.
Exakte Zeiterfassung durchdringt alle Lebensbereiche
Seit Beginn der Industrialisierung begann die Uhrzeit, unser Leben immer dynamischer zu durchdringen. Es liegt auf der Hand, dass es für ein leistungsfähige Wirtschaft die exakte zeitliche Durchtaktung essenziell ist. Immer genauere Uhren, die zudem bezahlbar und am Körper tragbar waren, sorgten für die nahezu vollständige zeitliche Vermessung aller Lebensbereiche.
„Zeit ist Geld“ und zudem immer knapp. Die Unmengen an Verpflichtungen und Entscheidungsmöglichkeiten (beruflich und auch privat) wollen alle ihr Stück vom gar nicht mehr so großen Zeitkuchen abbekommen. Zuerst schleichend und dann mit voller Wucht haben die Uhren die Kontrolle übernommen. Immer öfter bestimmen sie über unser Handeln. So entwickelten sich die Instrumente der Zeiterfassung und -messung vom Hilfsmittel zum Kontrollinstrument.
Ereigniszeit vs. Uhrzeit:
Das Beste aus beiden Welten
Wie bereits grob umrissen haben beide Formen des Lebens in der Zeit ihre Stärken und Schwächen. Wobei man leicht feststellen kann, dass vor allem die zu einseitige Ausprägung von Ereignis- oder Uhrzeit zu unschönen Nebeneffekten führt.
Vermutlich sind nur die Wenigsten von uns dazu bereit, auf die Errungenschaften und Annehmlichkeiten zu verzichten, die das Leben in einem wirtschaftlich leistungsstarken Land, das sich an der „Zeit der Uhren“ ausrichtet, zu verzichten…
Leben in der Ereigniszeit: Keine echte Option!
Betrachtet man die Kulturen, die heute noch überwiegend in der Ereigniszeit leben, so trifft man oft auf Armut und geringere Lebenserwartung.
Ebenso sind die Bildungsmöglichkeiten und medizinische Versorgung auf deutlich schlechterem Niveau, als es in den Industrienationen der Fall ist.
Umgekehrt macht sich gerade in diesen wohlhabenden Ländern bei immer mehr Menschen das Gefühl breit, in einem stressigen Hamsterrad gefangen zu sein. Was nicht selten dazu führt, ein verklärtes Bild von Kulturen zu zeichnen, die immer noch in der Ereigniszeit leben.
Betrachtet man die Thematik nur halbwegs objektiv, so ist klar, dass es kein zurück zur „guten alten Ereigniszeit“ geben wird. Zudem wäre kaum jemand dazu bereit, den fällig werdenden Preis (massive materielle Einschränkungen, schlechte Infrastruktur usw.) in Kauf zu nehmen.
Somit müssen vor allem auf zwei Fragen die richtigen Antworten gefunden werden:
- Wie können sowohl die Vorzüge der Ereigniszeit als auch der Uhrzeit genutzt werden?
- Umgekehrt: Wie kann man die jeweiligen Nachteile minimieren?
Robert Levine liefert in seinem Buch Eine Landkarte der Zeit auf diese Fragen zwei Strategien als Antworten. Zum einen gilt es, ein Leben im mittleren Tempo zu realisieren. Zum anderen geht es um die Fähigkeit zur Multitemporabilität.
Im mittleren Tempo leben
Wie so oft liegt irgendwo zwischen den schädlichen Extremen eine gesunde Mitte, die es zu finden gilt. Diese Mitte bezeichnet Levine als „mittleres Tempo“. Unter diesem Tempo wird ein ausgewogener Mix aus schnellem und langsamem Leben verstanden. Es gibt sowohl Zeiten, die von der Uhr bestimmt werden, als auch solche, in denen man sich von den Ereignissen treiben lässt und alles, was mit Zeitmessung zu tun hat einfach ignoriert.
Man kann natürlich viel behaupten. Warum soll ein mittleres Tempo der Schlüssel zum zeitlichen Wohlbefinden sein? Hier hilft es, wenn man sich die Extreme links und rechts von dieser goldenen Mitte anschaut.
Wenn die Uhrzeit allgegenwärtig ist
Die Vorteile genauer Zeiterfassung im Bereich des Ökonomischen sind unbestritten. An sich ist es ja auch nicht verwerflich, knappe Ressourcen optimal zusammenzuführen, um einen Mehrwert zu schaffen. Genaue Zeiterfassung sorgt für möglichst reibungslose Abläufe.
Die zeitliche Perfektionierung von Abläufen bringt aber mindestens zwei problematische Effekte mit sich:
- Die Arbeitsbedingungen sind zunehmend von Kontrolle und resultierendem Leistungsdruck geprägt. Was früher nur für die Arbeit am Fließband galt, ist heute auch für Beratungstätigkeiten, Pflegeberufe oder im Bildungssektor die Regel. Standardisierung und zeitliche Durchtaktung mit dem Ziel maximaler Arbeitseffizienz. Besonders Dienstleistungen, die ja für Menschen erbracht werden, sind immer öfter durch extrem unmenschliche Arbeitsbedingungen gekennzeichnet.
- Schleichend sickert die Logik der zeitlichen Effizienz um jeden Preis auch in den privaten Bereich. Was dazu führt, dass es immer schwieriger wird, zwischen beruflicher und privater Sphäre eine klare Grenze zu ziehen. Paradox: Noch nie hatten so viele Menschen so viel frei verfügbare Zeit. Zugleich macht sich aber ein Gefühl zunehmender Zeitknappheit breit.
Und Begriffe wie „Muße“ erscheinen fast schon dekadent, da Zeit doch so wertvoll ist und entsprechend gut genutzt werden muss. Nicht ungewöhnlich, wenn man sich dann plötzlich im Urlaub mit einer To-do-Liste wiederfindet, auf der die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten aufgelistet sind.
Wer permanent zeitlichem Druck sowohl im Beruf als auch in der Freizeit ausgesetzt ist, wird sich natürlich ununterbrochen in einem von Stress und Anspannung geprägten Zustand befinden. Vor allem wenn dieser Zustand mit einem Gefühl des Kontrollverlustes Hand in Hand geht, werden Lebensqualität und Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen.
Gefangen in der Ereigniszeit
Man könnte jetzt freilich annehmen, dass ein überwiegend von der Ereigniszeit geprägtes Leben optimal wäre. Dem ist, nach den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber nicht so.
Gerade die Menschen, die nahezu keinem Zeitdruck ausgesetzt sind, zählen zu den unglücklichsten Menschen in der (westlichen) Bevölkerung! Frei von jeglichem Zeitdruck zu sein ist ein typisches Merkmal der sozialen Verlierer. Wer kaum noch Zeitdruck hat, ist nicht selten gesellschaftlich isoliert und abgehängt.
Das mittlere Tempo erkennen
Der psychisch gesunde Mensch will sich beweisen, will lernen, will sich weiterentwickeln. Wie das im jeweiligen Einzelfall konkret aussieht, kann jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Zeitlicher Druck, der für den einen als vollkommen angemessen wahrgenommen wird, überfordert den anderen bereits. Was ist also zu tun?
Letztendlich geht es nur über experimentieren und intensive Selbstbeobachtung. Jeder muss für sich eine Reihe grundlegender Fragen beantworten:
- Wo liegt die individuelle Balance zwischen schnell und langsam?
- Welche zeitliche Durchtaktung ist für mich angemessen?
- Fühle ich mich, bei dem was ich tue, wohl?
- Machen sich negative psychische oder physische Symptome („Eilkrankheit“) bemerkbar?
Das individuelle „Mittelmaß an Druck“ sollte motivierende Wirkung haben und sich niemals nach Überforderung oder Kontrollverlust anfühlen.
Für den sagenumwobenen Flow-Zustand gilt genau das: Der Mensch muss sich im richtigen Umfang fordern; entsprechend stellen sich Konzentration und Leistungsbreitschaft ein, man ist voll und ganz bei der Sache und vergisst die Zeit.
„Im Wettlauf mit der Uhr zu arbeiten, bedeutet nicht notwendigerweise Stress, und das Fehlen jeglichen Zeitdrucks ist nicht automatisch entspannend. Zeitdruck kann Energien freisetzen und vitalisierend wirken, wenn er richtig dosiert ist.“
Robert Levine
Multitemporalität
Nun ist es schön und gut, die persönliche Wohlfühlzone zu verorten, in der man genau das richtige Maß an stimulierendem Druck und Phasen der Entspannung erhält. Leider ist das Leben nur selten ein Wunschkonzert: Was wir leisten sollen oder müssen, wird in vielen Fällen von außen an uns herangetragen. Ein ungeduldiger Chef oder Kollege bzw. Menschen, die von uns wie das Faultier Flash in Zoomania wahrgenommen werden, machen es nicht gerade leicht, sich in der mittleren Geschwindigkeit einzurichten.
Levine empfiehlt deshalb, bewusst das Switchen zwischen verschiedenen Lebensgeschwindigkeiten zu üben. Als Beispiel kann man gut den beruflichen Erfolg heranziehen. Er ist in großem Maß davon abhängig, die typischen Fähigkeiten eines schnellen Lebenstempos abrufen zu können. Schnell und konzentriert arbeiten, die Zeit beachten, moderate Ausrichtung auf die Zukunft. Hier befinden wir uns offensichtlich tief in der Sphäre „Zeit der Uhren“.
Im Umkehrschluss müssen aber genauso die Fähigkeiten zu Muße und Entspannung kultiviert werden. Also Phasen, in denen man keinen Blick auf die Uhr wirft und sich von der Ereigniszeit treiben lässt.
Das Optimum ist die flexible Anpassung des eigenen Tempos an die jeweilige Situation. Immer, wenn eine stressige Situation gemeistert ist, gilt es, den Adrenalinspiegel herunterzufahren. Für die vielen denkbaren Schattierungen von Anforderungen sollte möglichst angemessen reagiert werden. Das braucht zweifelsohne viel Erfahrung und Übung.
Fazit
Die Frage, ob es denn nun besser sei, nach der Ereignis- oder der Uhrzeit zu leben, stellt sich nicht wirklich. Die Durchdringung moderner Gesellschaften durch die Zeit der Uhren ist nicht mehr umkehrbar. Jeder von uns ist Teil einer Gesellschaft, die einer bestimmten kulturellen Prägung ausgesetzt ist. Es bringt insofern wenig, diese Tatsache zu ignorieren oder auf bessere Zeiten zu warten.
Sicher ist es unrealistisch, das gesamte „System“ ändern zu wollen. Aber es ist möglich, die Mechanismen zu verstehen, die unsere Lebensqualität verschlechtern. Und es ist auch möglich, sich selbst besser zu verstehen, was das individuelle Verhältnis zu Zeit und Lebenstempo angeht.
So ist es möglich, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ereignis- und Uhrzeit herzustellen. Oder anders formuliert: Der in unserem genetischen Code noch immer fest verankerte Ereigniszeit-Vorfahre kommt genauso zum Zuge, wie der planend-zukunftsorientierte Mensch heute.