Ein großer Teil der sogenannten Selbsthilfeliteratur empfiehlt „positives Denken“ als wirkungsvolle Maßnahme zur Überwindung von Lebenskrisen oder generell als Werkzeug für mehr Zufriedenheit und Erfolg. Allein durch die Kraft der eigenen Gedanken soll sich jedes Problem in den Griff bekommen lassen. Die Realität sieht jedoch anders aus: Exzessiv unkritisches positives Denken kann sogar gefährlich werden. Warum das so ist, erfährt man im Beitrag.
Inhalt
Das Versprechen:
Positives Denken löst alle Probleme
Problematische Phasen und Krisen gehören zum Leben genauso wie Zufriedenheit und Glück. Im Gegensatz zu letztgenannten möchte man die unschönen Zeiten möglichst schnell und unbeschadet hinter sich bringen. Das ist normal und nachvollziehbar.
Ein spezieller Bereich des Selbsthilfe- bzw. Ratgebergenres verspricht die ultimative Waffe für alle, die gerade einen problematischen Lebensabschnitt durchmachen und zu allem Überfluss auch noch mit einer negativen Einstellung zum Leben geschlagen sind.
Zauberformel Positives Denken
Diese „Waffe“ lässt sich in ihren Erscheinungsformen und Techniken unter dem Begriff „Positives Denken“ zusammenfassen. Die Anhänger des Positiven Denkens sind davon überzeugt, dass man durch die positive Ausrichtung der Gedanken nahezu jedes Problem lösen kann.
Beziehungskrisen, gesundheitliche oder finanzielle Probleme sind so in den Griff zu bekommen. Gleiches gilt für die Überwindung von Ängsten und Depressionen.
Normalerweise müsste sich bei jedem sofort der Eindruck aufdrängen, dass diese Versprechen viel zu schön sind, um auch nur im Ansatz wahr sein zu können. Erstaunlicherweise sind die Publikationen dieses Genres oft extrem erfolgreich. Und das sogar über viele Jahrzehnte!
Unrealistische Versprechen und trotzdem erfolgreich
Ein Klassiker des Positiven Denkens wie „Sorge dich nicht – lebe!“ von Dale Carnegie, wurde bereits 1948 veröffentlicht. Seit damals wurde dieses Buch in 38 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. Können so viele Leser irren?
„(…) probieren Sie diese neuen Methoden aus, und beobachten Sie, welche Wunder sie vollbringen.„
Dale Carnegie:
Sorge dich nicht – Lebe! S. 21
Schauen wir uns einige der Verheißungen genauer an. Wer sich ein detailliert-kritisches Bild machen will, dem empfehle ich Günter Scheichs Buch „Positives Denken macht krank“*. Die folgenden Argumente des Beitrags basieren zu einem großen Teil auf seinem Buch.
Positives Denken –
Wirkungslos bis gefährlich
Beim positiven Denken geht es darum, seinen Gedanken eine positive Grundhaltung überzustülpen. Und zwar um jeden Preis, egal wie groß die Probleme auch tatsächlich sein mögen.
Damit geht das Positive Denken weit über gewöhnlichen Optimismus hinaus. Dieser hat nämlich immer einen Bezug zu tatsächlich vorhandenen Aspekten des realen Lebens.
Wenn ich z. B. bei einem Marathon starte, kann ich für meine Platzierung und Zeit nur dann optimistisch sein, wenn ich zuvor entsprechend trainiert habe. Ist die Vorbereitung eher undiszipliniert verlaufen, haben positive Erwartungen keine Basis – sie sind dann pures Wunschdenken.
Postives Denken ähnelt Wunschdenken
Ohne wenigstens ein Minimum an Realitäts-Erdung liegt deshalb kein Optimismus, sondern Wunschdenken vor. Tatsächlich haben Wunschdenken und Positives Denken ziemlich viel miteinander gemein.
In beiden Fällen werden unangenehme Gedanken einfach ausgeblendet. Es liegt auf der Hand, dass so die Gefahr einer verhängnisvollen Realitätsflucht massiv zunimmt. Gefahren werden einfach ignoriert. Das Unheil kann dann ungebremst seinen Lauf nehmen.
Wer zudem Probleme mit Prokrastination – also dem zwanghaften Aufschieben – hat, wird sich mittels positivem Denken immer wieder selbst beruhigen; es wird ja alles gut. Tatsächlich bleibt man weiter in einem Netz aus Passivität, Lethargie und Selbstzweifeln gefangen. Zum Mechanismus der Prokrastination empfehle ich den Beitrag Prokrastination überwinden.
Positives Denken funktioniert nicht!
Das Konzept liefert eine simple Lösung für eine kompliziert-chaotische Welt. Das sollte an sich schon für Skepsis sorgen. Nahezu immer werden kaum erreichbare Ideale in Aussicht gestellt.
Und als ob das nicht schon unrealistisch genug wäre, soll das auch direkt aus den tiefsten Krisen heraus funktionieren. Von Null auf hundert geht es dann von
- krebskrank zu kerngesund,
- total pleite zu Reichtum,
- vom ängstlichen Außenseiter zum allseits beliebten und zudem begnadeten Redner.
Die meisten Annahmen des Positiven Denkens halten einer kritischen Betrachtung nicht stand. Die folgenden Punkte sollen das veranschaulichen.
Selbsthilfe nur begrenzt möglich
Wer sich einen Ratgeber wie „Sorge dich nicht – lebe!“ zulegt, hat vermutlich ein oder mehrere Problem(e) und sich nun dazu entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Aber wie aussichtsreich ist dieser Selbsthilfe-Versuch?
Natürlich schaffen es Menschen immer wieder, Krisen zu überwinden, Probleme zu lösen und heikle Situationen zu managen. Allgemein kann man sagen, dass die Erfolgsaussichten umso kleiner werden je größer die Probleme sind. Das gilt ganz besonders für psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen.
Wie soll sich der Kranke selbst therapieren?
Die Krux liegt darin, dass es bei den genannten Problemen kaum möglich ist, sich selbst objektiv zu beurteilen. Aber wie soll man sich selbst therapieren, wenn man nicht einmal die Problematik sicher erfassen kann? Das ganze hat irgendwie den Charakter der Münchhausen-Geschichte, in der sich der Lügenbaron an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht.
Vermutlich bringt ein guter Freund, den man zurate zieht, deutlich mehr als der Versuch einer Selbsttherapie. Zudem wenn es sich dabei um einen 70 Jahre alten Ratgeber handelt, der wissenschaftliche Erkenntnisse geflissentlich ignoriert.
Oft wird professionelle Hilfe notwendig sein. Spätestens wenn über längere Zeit grundlegende Lebensbereiche (soziale Kontakte, Job) beeinträchtigt sind, wird es dafür höchste Zeit.
Überschätzung der Kraft von Gedanken
Die grundlegende Annahme der Vertreter des Positiven Denkens geht davon aus, dass Gedanken die Macht zur allumfassenden Problemlösung besitzen. Man muss sich nur selbst davon überzeugen, dass alles prima ist.
Aber kann das überhaupt funktionieren? Kann Glück das Ergebnis eines isolierten Kammerspiels in unseren grauen Zellen sein? Wohl kaum. Unsere Persönlichkeit ist von viel mehr als nur dem Denken und der Sprache bestimmt.
Menschen sind mehr als nur Gedanken und Sprache
Genetische Aspekte sowie frühkindliche Prägung und alles, was irgendwann mehr oder weniger bewusst erlebt wurde, bestimmen wer wir sind und demnach auch wie wir fühlen.
Ich kann den ganzen Tag zu mir sagen, dass es mir gut geht – helfen wird es mir in der Krise allerdings nicht. Dafür braucht es auch eine Portion positiver Realität.
Sich einzureden, dass alles gut sei, dass Angst und Probleme nichtig sind, wird keine Hilfe bei der Überwindung von Defiziten oder Traumata leisten, wenn die Realität wirklich mies ist.
Fehlt es an geeigneten Bewältigungsstrategien oder bestehen schlechte Rahmen- bzw. Lebensbedingungen hilft demnach auch kein positives Denken.
Angst überwinden = Krebs besiegen?
„Jedenfalls erlebte ich ein Wunder, ich wurde geheilt. Ich bin nie gesünder gewesen als in den letzten paar Jahren, und das nicht zuletzt dank der energischen Worte: ‚Sieh den Tatsachen ins Auge! Hör‘ auf Angst zu haben!'“
Dale Carnegie:
Sorge dich nicht – Lebe! ebd.
Warum man durch positives Denken von Krebserkrankungen geheilt werden sollte, erschließt sich auch nicht ohne Weiteres. Carnegie liefert in seinem Buch mehrere Einzelfälle, in denen schwer Erkrankungen im Schnellverfahren geheilt werden. Und das funktioniert eigentlich ganz einfach: Angst ab-, Lebenswillen einschalten, gesund werden – fertig!
Das Dumme an der Sache ist, dass sich Ängste (und erst recht Krebszellen) dem Zugriff von Sprache und Denken weitgehend entziehen. Besonders wenn sie durch Wiederholung tief verankert – also konditioniert – wurden.
Wem bei Spinnen, beengten Räumen oder großen Menschenmassen der Angstschweiß auf die Stirn tritt, wird von keinem „Ich-mach-mir-selbst-Mut-Mantra“ die Angst genommen. Und bei der Vorstellung des nahenden Todes infolge einer grausamen Krankheit erst recht nicht.
Das bessere Ich manifestieren
Eine andere Empfehlung geht auf Vincent Peale zurück. Als Pfarrer und zudem Pionier des Positiven Denkens stellte er einige reichlich gewagte Thesen auf. Körperliche Erkrankungen seien z. B. immer auf geistige Ursachen zurückzuführen.
Was dann natürlich den gefährlichen Umkehrschluss impliziert, dass medizinische Behandlungen durch Positives Denken überflüssig werden könnten.
Er forderte, dass man ein geistiges Bild der voll entwickelten Persönlichkeit prägen solle. Stellt sich die Frage, wie man das als noch nicht vollständig entwickelte (und somit unfertige) Persönlichkeit bewerkstelligen soll.
Es liegt auf der Hand, dass eine Vorstellung dieser Entwicklungsstufe erst dann möglich sein kann, wenn man nicht mehr allzu weit von ihr entfernt ist. Entwicklung erfolgt nun mal in kleinen Schritten.
Sich im Alter von 18 die „voll entwickelte“ Persönlichkeit mit 38 Jahren vorzustellen, mag ja ganz lustig sein. Vor allem aber ist diese Übung gänzlich nutzlos für die tatsächliche Entwicklung.
Keine Auseinandersetzung mit den Ursachen
Die Techniken des Positiven Denkens weisen ein weiteres gravierendes Defizit auf. Es kommt zu keiner echten Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Problemen.
Eben dieser Mangel kann dazu führen, dass die bestehenden Defizite sogar verstärkt werden. Das gilt ganz besonders für krankhafte Erscheinungsformen der Psyche wie Ängste und Depressionen.
Die Vertreter des Positiven Denkens propagieren in erster Linie Verdrängungsstrategien. Weder die belastete Vergangenheit noch die problematische Gegenwart wird aufgearbeitet. Geschweige denn, dass eine anstrengende zukünftige Arbeit an sich selbst Thema wäre.
Die Gefahr:
Wenn alles noch schlimmer wird
Falscher Optimismus kann schwerwiegende Folgen haben. Geht man davon aus, dass man allein durch positive Einstellung negative Entwicklungen abwenden kann, resultiert das schnell in einer Einstellung nach dem Motto „Es-wird-schon-irgendwie-gutgehen“.
Gefährliche Ausblendung der Realität
Das kann allerdings brandgefährlich sein, wenn es dazu beiträgt, reale Gefahren auszublenden. Gewagte finanzielle Abenteuer können die ganze Existenz gefährden, wenn Optimismus keine reale Basis mehr hat und zu Wunschdenken mutiert.
Positives Denken in extremer Ausprägung leistet genau das: es blendet die Realität aus und zementiert zudem psychische Unreife. Besonders empfänglich für die vollkommen überzogenen Versprechen der Selbsthilfegurus sind Menschen, bei denen bereits eine psychische Störung vorliegt.
Es wird ihnen ein bequemer Weg ins Paradies (Gesundheit, Wohlstand, Liebe usw.) versprochen. Ganz ohne anstrengende Arbeit an sich selbst, Therapie und Medikamenten.
Hilfesuchende sind am Scheitern immer selbst schuld
Wenn das Paradies auf sich warten lässt – und genau das passiert immer – liefern die Gurus dafür eine perfide Begründung: Man hatte einfach eine zu negative Einstellung, d. h. man hat die Ratschläge des Positiven Denkens nicht konsequent genug befolgt.
Der hilfesuchende Ratgeber-Leser ist, wenn die hochtrabenden Versprechungen nicht eintreten, immer selbst schuld. Was zu Frustration und sogar Schuldgefühlen führen kann.
Nicht selten haben die Hilfesuchenden über die Jahre eine ganze Selbsthilfe-Bibliothek aufgebaut. Und mit jedem neuen verheißungsvollen Buch steigt nach anfänglicher Euphorie die Frustration.
Fazit: Versprechungen mit Suchtpotenzial
Es liegt auf der Hand, dass Menschen besonders, wenn sie eine schwierige Zeit durchleben, für einfache und zudem Erfolg versprechende Lösungen empfänglich sind.
Wenn die Kontrolle über das Leben entgleitet und die Probleme über den Kopf wachsen, sehnt man sich nach den paradiesischen Zuständen, die in der Welt der positiven Gedanken herrscht. Die Vertreter des Positiven Denkens versprechen ihren Leser ohne mit der Wimper zu zucken das Blaue vom Himmel:
- Wünsche erfüllen sich auf bequeme Weise
- Keine Notwendigkeit, sich mit den persönlichen Schwächen und Defiziten auseinanderzusetzen
- Negative Erfahrungen und schlechte Erlebnisse verdrängt
- Vereinfachung einer komplexen Welt, die man kaum versteht
- Versprechen absoluten Glücks
Wenn dann nichts davon wahr wird, verstärkt das die Frustration und Krise der Hilfesuchenden zusätzlich. Auch verlieren sie wertvolle Zeit, die sie für eine effektive Aufarbeitung und Problemlösung nutzen könnten. Ideal mit Hilfe und Unterstützung von anderen wie Freunde, Familienangehörige oder in schwerwiegenden Fällen auch durch Therapeuten.
Positives Denken um jeden Preis verhindert professionelle Hilfe und verschlimmert die Situation meist. Zudem manövriert man sich zunehmend in die Abhängigkeit euphorisierender Heilsversprechungen von Scharlatanen.
Unter dem Strich sind diese die einzigen, die von ihren Versprechungen wirklich profitieren. Ihre wirkungslosen und nicht selten schädlichen Tipps sorgen ausschließlich bei ihnen (und ihren Verlagen) für Wohlstand. Eine Rezension aus der FAZ von 1997 enthält ein sehr treffendes Zitat über Dale Carnegie:
„In vielen anderen Berufen, als Cowboy etwa, als Schauspieler, Autohändler oder Romancier, war er gescheitert. Zu seinem Erfolg wurde, anderen Erfolglosen Erfolgsrezepte zu offerieren.“
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
01.02.1997, Nr. 27 / Seite B2
Kluges statt Positives Denken!
Der Beitrag verfolgt nicht die Absicht, jede positive Sichtweise abzuwerten. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass sich in der Regel kein Problem einfach nur deshalb in Luft auflöst, weil man alles durch die rosarote Brille des Positiven Denkens betrachtet. Es braucht nämlich kein „positives“ sondern vielmehr kluges Denken.
Wer die verfügbaren Fakten in seine Überlegungen aufnimmt, entsprechend fundierte Schlussfolgerungen zieht und zudem daraus vernünftige Handlungen ableitet, ist auf dem richtigen Weg. Dazu noch eine Portion Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und gesunder Optimismus stellt sich von ganz allein ein.
Positives Denken: Realitätsverneinend und passiv
Die Techniken des Positiven Denkens ist eine zutiefst realitätsverneinende und zudem passive Strategie. Mal im Ernst: Was sollen immer wieder reproduzierte Wunschträume an einer problematischen Lebenssituation ändern?
Das Versprechen vom bequem erreichbaren Paradies auf Erden wirkt wie eine Droge: Nach kurzer Euphorie folgt immer die Ernüchterung, weil sich nichts geändert hat oder alles noch schlimmer geworden ist.
Und wie ein Junkie kauft man sich den nächsten Ratgeber, der die gleichen unhaltbaren Versprechen in leicht verändertem Gewandt präsentiert. Hier hilft nur der kalte Entzug: Schnell den ganzen wertlosen Selbsthilfe-Schund in die blaue Tonne umsiedeln und ab sofort einen großen Bogen um diese „Literatur“ machen!
Seriöse populärwissenschaftliche Alternativen
Wer auf der Suche nach geeigneten Strategien für das Erreichen von Zielen oder Verhaltensänderungen sucht, findet im Bereich der populärwissenschaftlichen Literatur hervorragende Publikationen.
Die Betonung soll hier auf dem Aspekt der Wissenschaftlichkeit liegen: Die Autoren können eine akademische Bildung vorweisen und liefern solide Belege für ihre Thesen. In einem der nächsten Beiträge werde ich auf Die Psychologie des Gelingens von Gabriele Oettingen eingehen.
Dort wird ebenfalls Kritik an der überzogen positiven Sichtweise bzw. dem Tagträumen von bereits erreichten Zielen geübt. Probleme und Hindernisse werden allerdings als Chance gesehen, die mit der richtigen Vorgehensweise in Erfolge verwandelt werden können. Mehr dazu später.