Wer immer alles bis auf die letzte Kleinigkeit perfekt erledigen will, hat ein Problem. Unkontrolliert ausufernde Perfektionswut ist einer der größten Zeitfresser überhaupt und gefährdet nicht selten den Erfolg von wirklich wichtigen Zielen und Projekten. Wie man übertriebenen Perfektionismus überwindet und mit mehr Zeit und sogar gesteigerte Effizienz belohnt wird, zeigt der Beitrag. Ganz nach dem Motto: Gut ist das neue Perfekt.
Inhalt
Ist das Gute wirklich der Feind des Besseren?
Keine Frage: Man will die Dinge richtig machen. Am Besten sogar richtig gut. Warum also nicht gleich perfekt? Natürlich ist es ein tolles Gefühl, wenn Aufgaben hervorragend erledigt werden.
Aber es ist ein sehr schmaler Grad, der zwischen ambitionierten persönlichen Standards und zwanghaftem Perfektionsstreben liegt.
Mag sein, dass das Gute der Feind des Besseren ist. Der ausufernde Perfektionismus ist aber auf jeden Fall das ideale Instrument für wirkungsvolle Selbstsabotage.
Wer sich auch zu den Menschen zählt, die alles perfekt umsetzen wollen und bereits auf kleine Fehler allergisch reagieren, sollte sich den Beitrag genauer anschauen.
Die dunkle Seite des Perfektionismus
Es ist nicht per se schlecht, wenn man ambitionierte Ansprüche an sich selbst und andere stellt. Gleiches gilt für das Ziel, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Allerdings lohnt es sich, dass kleine sympathische Wörtchen „perfekt“ genauer unter die Lupe zu nehmen.
Perfekt bedeutet nichts anderes als Vollkommenheit und somit einen Zustand, an dem sich nichts mehr verbessern lässt. Der Begriff beschreibt demnach ein Ergebnis, das frei von jeglichem Makel oder Fehler ist.
Die meisten dürften mir zustimmen, dass dieser Anspruch eher von theoretischer Natur als von praktischem Nutzen ist. Im Grunde genommen haben nur Gott und vermutlich auch Chuck Norris ein Abo auf diesen Nimbus.
Trotzdem gibt es Menschen, die sich von der Illusion allumfassender Perfektion geradezu magisch angezogen fühlen. Warum ist das so?
Ursprung in der Kindheit
Wer bereits in der Kindheit in erster Linie durch besondere Leistungen die Zuwendung der Eltern erlangen konnte, ist besonders anfällig für Perfektionismus im Erwachsenenleben. Lob für das aufgeräumte Zimmer oder die sehr guten Schulnoten; Abwertung und Liebesentzug beim Ausbleiben der Leistungen.
Wer so sozialisiert wurde, kann kaum ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Nur wenn immer mehr geleistet wird, hat man die Gewissheit, etwas wert zu sein. Die Angst zum Versager abgestempelt zu werden, ist ständiger Begleiter. Entsprechend haben diese Personen ein höheres Risiko für Burn-out, Depressionen oder Angststörungen.
Fatalerweise werden diese ungesunden Mechanismen in der modernen Leistungsgesellschaft zusätzlich angeheizt. Alles wird evaluiert und bewertet. Das Motto lautet: höher, schneller, weiter. An jeder noch so kleinen Stellschraube wird zwecks Optimierung gedreht. Und nur wer funktioniert wird auch wirklich akzeptiert.
Workaholics sind daher nicht selten das Ergebnis übertriebener Leistungsorientierung ihrer Eltern. Diese Sozialisation lässt sich dann perfekt im Beruf ausleben – mit allen negativen Begleiterscheinungen.
Dimensionen von Perfektionismus
Lange wurde davon ausgegangen, dass Perfektionismus eine ausschließlich selbst auferlegte Bürde sei: Als Perfektionist hat man (zu) hohe Ansprüche an sich selbst und ist um keinen Preis dazu bereit, diese zu senken. Lieber macht man Überstunden oder hat wunde Finger von exzessiven Putzorgien.
Ist Perfektionismus wirklich nur die Kombination aus sehr hohen Ansprüchen und Starrsinn?
In den frühen 2000ern kam ein etwas differenzierteres Bild auf. Neben dem gerade genannten „Selbstgerichteten Perfektionismus“ wurden zwei weitere Formen definiert:
- Sozialer Perfektionismus: Hier geht der Perfektionist davon aus, dass seine Mitmenschen (Arbeitskollegen, Chef, Familie) besonders hohe Ansprüche an ihn stellen würden. Der Zwang zum Perfektionismus kommt hier überwiegend durch diese Einschätzung der anderen zustande.
- Außengerichteter Perfektionismus: Hier haben die Betroffenen sehr hohe Erwartungshaltungen gegenüber anderen. Oft kann man diesen Zeitgenossen nichts recht machen. Umgekehrt ist von ihnen der Vorwurf zu hören: „Dann mache ich das lieber selbst. Sonst wird das ja eh nichts Richtiges!“
Perfektionismus ablegen:
Typische Situationen
Schauen wir uns eine Reihe typischer Situationen aus dem beruflichen und privaten Bereich an, in denen Perfektionismus zum Problem wird.
In allen Beispielen stehen Kosten (Zeitaufwand, Anstrengung) in keinem akzeptablen Zusammenhang zum Nutzen (Lebensqualität, erreichen übergeordneter Ziele).
Die Herausforderung besteht darin, sich in einem ersten Schritt die Problematik bewusst zu machen um dann geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Fehlervermeidung um jeden Preis
Man will immer alles richtig machen. Der oft bereits in der Kindheit angelegte Mangel an Selbstbewusstsein resultiert in der Angst, wegen eines verursachten Fehlers als Versager gesehen zu werden.
Das Ganze kann dann leicht in einem Zwang zur Fehlervermeidung um jeden Preis resultieren. Wenn man allerdings jede noch so banale Kleinigkeit doppelt und dreifach prüft, wird jede Menge Zeit verschwendet.
Fehler kommen natürlich trotzdem vor, weil man permanent unter selbst verschuldeter Zeitknappheit und somit Stress leidet.
Ich hasse diese kalten, genauen, perfekten Leute, die, um nicht falsch zu sprechen, überhaupt nicht sprechen, und um nichts falsch zu machen, nie etwas tun.
Henry Ward Beecher (1813 – 1887)
US-amerikanischer Geistlicher
Durch dieses Verhalten beraubt man sich zudem der Chance, aus Fehlern zu lernen. Fehler um jeden Preis zu vermeiden kann zudem lähmende Wirkung haben: Eher wird man gar nicht aktiv als vielleicht etwas falsch zu machen und Abwertung zu erfahren.
Übertriebener Ordnungssinn
Hier besteht der Zwang, dass immer alles ordentlich sein muss. Eine benutzte Kaffeetasse wird sofort gespült, Arbeiten werden unterbrochen, um den Schreibtisch aufzuräumen.
Auch im privaten Bereich gilt es bewusst zu hinterfragen, wann es genug ist. Die Wohnung muss nicht zwingend jederzeit wie nach einem Großputz aussehen; es ist auch nicht gesetzlich vorgeschrieben, Kleidung farblich zu sortieren.
Die so verschwendete Zeit summiert sich! Man sollte sich fragen, ob es wirklich notwendig ist, schon beinahe steril anmutende Ordnung anzustreben. Empfehlenswert ist es, sich ein Zeitlimit für solche Aufgaben zu schaffen. Dieses Limit ist verbindlich einzuhalten!
Es kann helfen, bewusste Nachlässigkeiten zuzulassen: Eine Jacke nur über den Stuhl hängen oder ein Buch nicht gleich wegräumen. Also eine Form von bewusst gesteuerter „Entwöhnung“ vom Ordnungsfetisch und -zwang.
Mehr als notwendig leisten
Besonders im Beruf sollte man bewusst nur die Leistungen erbringen, die auch wirklich gefordert sind – diese dann aber auch gut. Schießt man stattdessen regelmäßig weit über das eigentliche Ziel hinaus, überwiegen die Nachteile:
Erstens setzt man sich so nur unnötig selbst unter Zeitdruck. Zweitens besteht die Gefahr, dass die Kollegen dieses Verhalten schamlos ausnutzen und so Zeit für eine zusätzliche Kaffeepause schinden können.
Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ergebnis, wenn man ewig an der Formulierung einer Mail herumfeilt oder stundenlang nach den perfekten Stockfotos für eine Präsentation sucht.
Natürlich kann es gute Gründe für besonderes Engagement geben. Vielleicht will man sich für eine zukünftige Beförderung entsprechend positionieren. Aber auch hier gilt, dass Zeit und Energie knappe Ressourcen sind: Sie sollten bewusst nur dort eingesetzt werden, wo sie auch entsprechende Wirkung zeigen.
Perfektionismus als Vorwand
Gerne wird Perfektionismus auch als Ausrede instrumentalisiert. Immer wenn es darum geht, unangenehme Aufgaben vor sich her zu schieben, ist das eine beliebte Prokrastinations-Technik. Ein typisches Beispiel: Normalerweise eher unordentliche Studentenbuden sind in der Prüfungsphase plötzlich mustergültig aufgeräumt.
Mir selbst erging es bei Hausarbeiten ähnlich. Wenn die Abneigung gegen das Schreiben besonders groß war, wurde die Literatur-Recherche entsprechend ausgeweitet. Das beruhigte das Gewissen und man hatte noch etwas Aufschub vor der „echten“ Arbeit gewonnen.
Menschen sind oft Meister darin, sich in die eigene Tasche zu lügen. Um kreative Vermeidungsstrategien von vornherein zu verhindern, braucht es in erster Linie eine klare Zeitplanung. Jedem Arbeitsschritt wird eine verbindliche Zeitspanne und Deadline zugewiesen. Ausufernde Beschäftigung mit Pseudo-Arbeiten werden so verhindert.
Übertriebene Pünktlichkeit
Zu Terminen oder zur Arbeit immer eine halbe Stunde früher zu erscheinen, ist meist nicht sinnvoll. Vor allem, wenn man diese Zeit dann auch noch mit Nichtstun totschlagen muss. Nur bei besonders wichtigen Terminen schadet es nicht, auf Nummer sicher zu gehen und angemessene Pufferzeiten einzuplanen.
Schlau, wenn man sich für solche Zeiten auch gleich eine sinnvolle Beschäftigung bereithält. Natürlich sollte man immer versuchen, pünktlich zu sein. Das wird in der Regel im beruflichen wie privaten Bereich erwartet. Exzessive Überpünktlichkeit um ihrer selbst willen ist dagegen vollkommen überflüssig.
Wenn man bei sich den Zwang zu extremer Pünktlichkeit verspürt, sollte man es einfach mal darauf ankommen lassen und unpünktlich sein! Auch das kann vorkommen und wird normalerweise weder einen Weltuntergang noch die soziale Ächtung nach sich ziehen.
Wobei – vielleicht gibt es doch Ausnahmen. Ich musste gerade an den Film Clockwise mit John Cleese denken. Zu spät kommen kann manchmal doch problematisch sein 😉
Perfektionismus in der Freizeit
Wer zu Perfektionismus tendiert, läuft schnell Gefahr, die bereits genannten Verhaltensmuster auch auf den privaten Bereich zu übertragen. So werden Hobbys nicht selten mit semiprofessioneller Verbissenheit betrieben.
Es genügt nicht, regelmäßig zu joggen – es muss mindestens auf einen Halbmarathon hingearbeitet werden. Statt Entspannung und verbesserter Gesundheit kommt es schnell zu Wettbewerbsdenken und Freizeitstress.
Durch die Neuen Medien sind zusätzlich neue Perfektionismus-Formen entstanden. Lifestyle-Perfektionisten bemühen sich um ihre makellose Selbstdarstellung. Ein gewöhnlicher Urlaub ist für Erlebnis-Perfektionisten viel zu banal. Es braucht stattdessen Superlative, die natürlich immer wieder zu toppen sind.
Perfektionismus ablegen: Denkanstöße
Wer immer perfekt sein will, ist schon gescheitert. Das gilt für im Kleinen wie im Großen: Persönlichkeit, Karriere und Erfolg: Alles leidet unter den unrealistischen Anspruchshaltungen.
Man sollte sich immer bewusst machen, dass Perfektion nicht erreichbar ist und exzessives Streben nach ihr jede Menge wertvolle Zeit kostet.
Hier eine abschließende Liste mit allgemeinen Empfehlungen um schädlichen Perfektionsanspruch in die Schranken zu weisen:
- Standardaufgaben konzentriert abarbeiten. Beispiel Mails: Konzentriert schreiben und abschicken. Kein Korrekturlesen oder Layout-Frickeleien.
- Erkennen, auf welche Dinge es wirklich ankommt. D. h. Fähigkeit Prioritäten zu setzen muss entwickelt und trainiert werden.
- Um zu einem guten Endergebnis zu kommen, müssen viele kleine Teilschritte absolviert werden. Besonders bei diesen kommt es nicht auf Perfektion, sondern die angemessene Erledigung des Wesentlichen an.
- Dafür muss man jederzeit das große Ganze im Auge behalten. Sonst besteht leicht die Gefahr, sich mit Kleinigkeiten zu verzetteln. Frage: Was soll am Schluss das Ergebnis sein? An diesem Ergebnis wird letztendlich der tatsächliche Erfolg gemessen – nicht an „perfekt“ umgesetzten Teilschritten!
- Speziell zu Punkt 4. kann das Pareto-Prinzip (80/20-Prinzip) wertvolle Anregungen liefern. Die grundlegende Aussage des Prinzips lautet, dass 80 Prozent einer Aufgabe in 20 Prozent des Zeitaufwandes zu bewerkstelligen sind. Speziell, was die Teilschritte eines Projektes angeht, ist man gut beraten, wenn man den Fokus auf diese besonders wirksamen 20 Prozent legt.
- Immer das Kosten-Nutzen-Verhältnis bedenken. Zeitaufwendiger „Feinschliff“ nur, wenn dieser wirklich in der jeweiligen Situation notwendig ist. Generell sollten Verhältnismäßigkeit und die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit beachtet werden.
- Mehr Vertrauen in andere und deren Arbeit haben. Nicht auch diese noch ständig überwachen.
- Fehler sind nicht als Versagen, sondern als Chancen für Verbesserungen zu sehen.
- Öfter mal Fünf gerade sein lassen. Einfach sagen: „Das ist gut so – fertig!“
- Freizeit braucht auch Raum für Entspannung. Einfach mal nichts machen.
Alternative „gesunder“ Perfektionismus?
Wir würden es uns aber zu einfach machen, wenn wir das Streben nach Perfektion generell verteufeln. Dass wir uns weiterentwickeln und verbessern wollen, ist ein wertvoller Aspekt des Menschseins. Setzt man diese Motivation mit dem Begriff des Ideals in Verbindung, kann man daraus einen „gesunden“ Perfektionismus ableiten.
Das lässt sich leicht an einem Beispiel verdeutlichen. Wie schon in den Zehn Geboten gefordert wird, sollte man nicht lügen. Das bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass man auch immer die Wahrheit sagen müsste.
In der Praxis hat man dann genau zwei Möglichkeiten: Entweder man macht sich sehr schnell ziemlich unbeliebt („Wie gefällt dir meine neue Frisur?“ – „Sieht Kacke aus; war das der Azubi?“) oder man wählt die Strategie des beredten Schweigens. Beides erscheint ziemlich unbefriedigend.
Wenn der Weg das Ziel ist
Man könnte für sich somit das Ideal absoluter Ehrlichkeit definieren und ab diesem Punkt garantiert jede Menge Stress haben. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Der Philosoph Paul Lorenzen akzeptiert von vornherein, dass Ideale genau (wie alles Streben noch Vollkommenheit) nicht zu erreichen sind. Man kann sich Idealen nur annähern.
Das sie letztendlich unerreichbar bleiben ist kein großes Problem, wenn man sich dessen vorab bewusst ist. Trotzdem sind sie wertvolle Hilfen. Immer wenn wir Entscheidungen treffen müssen, geben sie uns einen Fingerzeig darüber, was richtig oder falsch ist. Für das Streben nach Perfektion bedeutet das zweierlei.
Zum einen ist es Ausdruck unseres Willens zur Verbesserung und Entwicklung. Zum anderen die Einsicht, dass der Weg das Ziel ist. Das Konzept des Ideals zeigt uns den Weg zum Besseren hin; wir müssen uns nicht mit überzogenem Perfektionswahn selbst sabotieren.
Auf das Beipiel übertragen würde das bedeuten, den Wert der Wahrheit durchaus anzuerkennen. Man bemüht sich also nach Kräften, ihr gerecht zu werden. Allerdings sorgt der Status des Ideals dafür, dass wir uns nicht zwanghaft einer Wahrheit ohne Rücksicht auf Verluste mit all deren Kolateralschäden verpflichten.
Diese Sichtweise kann generell für einen entspannteren Umgang mit überzogenen (perfektionistischen) Erwartungen sorgen. Ideale mit Wegweiserfunktion vermeiden die zwanghafte Absolutsetzung des Perfektionismus. Solange die Richtung stimmt ist alles gut. Perfekt, oder?