Im letzten Beitrag ging es um die besondere Bedeutung von Erinnerungen. Sie bestimmen, wer wir sind; zugleich sind sie fehlerhaft, unvollständig und manipulierbar. Auch wenn diese Defizite nie ganz zu beseitigen sind, gibt es eine altbekannte Methode der Selbstvergewisserung, die unseren Erinnerungen eine neue Qualität verleihen kann – Tagebuch schreiben. Der Beitrag erläutert ebenfalls die positiven Auswirkungen des Schreibens auf unsere Wahrnehmung von Zeit und Vergangenheit.
Insgesamt gibt es drei Beiträge zum Thema „Tagebuch“:
Was Tagebuch schreiben leistet (dieser Beitrag)
Tagebuch schreiben: Minimalistischer 30-Tage-Einstieg
10 Vorschläge für ein individuelles Tagebuch
Inhalt
Erinnerungs-Defizite:
Erinnerungen trügen immer!
Erinnerungen sind trügerische Gesellen. Sie erwecken viel zu oft den Eindruck, dass man ihnen blind vertrauen kann. Stellt man sie dann aber auf die Probe, stellt sich heraus, dass sie es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen. Ereignisse werden verfälscht, komplett erfunden oder ganz vergessen.
In vielen Fällen können fehlerhafte Erinnerungen vernachlässigt werden. Form und Farbe der Übertöpfe auf der Wohnzimmer-Fensterbank der ersten eigenen Wohnung (die Blumen hatte eh immer die Partnerin gegossen) sind vermutlich nur vage ins autobiografische Gedächtnis gewandert. Mit solchen und ähnlichen Erinnerungslücken lässt sich recht gut leben.
Aber auch die Ereignisse, die unsere Persönlichkeit nachhaltig prägen sind den Schwächen des Erinnerungsvermögens ausgeliefert. Durch regelmäßiges Tagebuchschreiben können wir etwas zusätzliches Licht und Farbe in unsere grauen Zellen bringen.
Tagebücher:
analoge Hirnprothesen
Wie ich bereits im Beitrag Warum man seine Erinnerungen pflegen sollte erläutert habe, ist es nicht zu vermeiden, mit trügerischen Erinnerungen leben zu müssen. Erinnerungen sind immer nur Rekonstruktionen der Vergangenheit. Und das bedeutet auch, dass Lücken kreativ ausgefüllt, Dinge verwechselt und permanent neu interpretiert – d. h. verändert – werden.
Bereits die Erkenntnis, dass Erinnerungen nicht die tatsächlichen Erlebnisse 1:1 darstellen, ist eine ziemlich gute Medizin gegen Rechthaberei und den Trugschluss, immer genau zu wissen, wie sich Vergangenes angeblich zugetragen hat. Andererseits möchte man sich auch nicht von den eigenen Erinnerungen zu sehr an der Nase herumführen lassen.
Tagebuch schreiben:
Was bringt es?
Ein Tagebuch kann in diesem Zusammenhang außerordentlich Nützliches leisten. Es ist weit mehr als das tränengetränkte Medium gequälter Teenager-Seelen. Vor allem wenn man die, von für Erwachsene oft banal erscheinenden, Irrungen und (Ver-)Wirrungen der Pubertät hinter sich gelassen hat, leistet es wertvolle Dienste für die persönliche Entwicklung, die sich bis ins hohe Alter auszahlen.
Ein Tagebuch ist ein wirkungsvolles Werkzeug, um Gedächtnis und Erinnerungen ordentlich auf die Sprünge zu helfen. Es beseitigt die genannten Schwächen zwar nicht vollständig; immerhin entschärft es sie deutlich.
Zudem liefert so eine Chronik des Lebens wertvolle Erkenntnisse über die eigene Persönlichkeit und hilft, die Vergangenheit zu verstehen und zu verarbeiten. Schauen wir uns die positiven Effekte einmal genauer an.
Tagebuch schreiben:
selektives Nicht-Vergessen
Ganz klar: Man will, kann und muss sich nicht jeden Kleinkram merken. Aber was ist mit all den Momenten, die es Wert sind in Erinnerung zu bleiben? Positive wie negative Ereignisse hinterlassen ihre Spuren und bestimmen letztendlich unsere Persönlichkeit.
Aber auch sie sind im Laufe der Zeit dem Vergessen ausgeliefert. Wie oft stellt man im Gespräch mit Freunden oder der Familie fest, dass bemerkenswerte Ereignisse vollkommen aus unserem Blick verschwunden sind. Nur durch Zufall kamen sie wieder an die Oberfläche. Der Tagebuchschreiber übernimmt die Kontrolle darüber, was er dem Vergessen entreißt. Er allein trifft die Entscheidung darüber, was Erinnerungs-Wert haben soll.
„Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt“
Ernst R. Hauschka
Ein Tagebuch sorgt also dafür, dass Erlebnisse, Emotionen und Gedanken in unseren eigenen Worten konserviert werden. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft kann man auf diese Erinnerungen zurückgreifen und sie so lebendig halten.
Besonders in schwierigen Lebensabschnitten können diese Erinnerungen eine wertvolle emotionale Stütze sein. Sie erinnern daran, dass man bereits frühere Krisen gemeistert hat und jedes Tief irgendwann von besseren Zeiten abgelöst wurde.
Qualität der Erinnerungen steigt
Je weniger Zeit zwischen dem Erlebten und dem Erinnern vergeht, umso weniger wird verfälscht oder vergessen. Wer zeitnah das Erlebte in seinem Tagebuch notiert, minimiert entsprechend die Schwächen von Erinnerung und Gedächtnis. Hier ist auch anzumerken, dass es von großer Bedeutung ist, möglichst viele Details der Erinnerung zu notieren.
Natürlich muss klar sein, dass es sich immer noch um unsere persönliche Wahrnehmung der Dinge handelt und diese ist nun mal immer hochgradig subjektiv. Das ist auch vollkommen in Ordnung und unvermeidlich. Entscheidend ist, dass man zehn oder zwanzig Jahre später eine Zeitreise zu den Eindrücken und Emotionen von damals unternehmen kann.
Tagebuch schreiben bedeutet Erlebtes verarbeiten
Erlebnisse in die Textform umzuwandeln ist eine beachtliche Leistung unseres Gehirns. Schließlich müssen wir eine Unmenge von Daten, die wir zuvor aufgenommen haben, in Buchstaben, Worte und Sätze umwandeln, die am Schluss auch noch Sinn ergeben! Nicht selten erleben wir Situationen, die tatsächlich eine Überforderung darstellen: Menschen verhalten sich uns gegenüber verletzend; vielleicht entwickeln sich Dinge auf eine Art und Weise die wir so niemals erwartet hätten.
Es sind diese Momente, in denen man von den Ereignissen kalt erwischt wird. In solchen Fällen braucht es manchmal Zeit und Abstand um die Ereignisse entsprechend bewerten, und einsortieren zu können. Die Textform eignet sich sehr gut: Sie bringt Struktur in das gedankliche Chaos und ermöglicht sogar einen gewissen Abstand.
Im Dialog mit sich selbst sein
Es ist, als ob man sich beim Schreiben im Dialog mit sich selbst befinden würde. Da ist der Schreiber auf der einen und der Beschriebene auf der anderen Seite. Elias Canetti sprach in diesem Zusammenhang von einem „Dialog mit dem grausamen Partner“ – zweifelsohne ein anstrengender aber eben auch fruchtbarer Prozess.
Ob man sich Frust von der Seele schreiben kann? Vielleicht klappt das bei einigen. Es könnte aber genauso sein, dass die neu gewonnene Klarheit (durch den Prozess des Schreibens) ein optimales Mittel gegen Frustration darstellt.
Eine Chance, die das Führen eines Tagebuchs ebenfalls eröffnet, ist die Aussöhnung mit der Vergangenheit. Das Konzept der Zeitperspektiven von Zimbardo/Boyd sieht große Vorteile darin, wenn man ein positives Verhältnis zur Vergangenheit hat oder auch erst nachträglich entwickelt. Genau dabei helfen Tagebücher.
Wer seine Tagebuchaufzeichnungen in verschiedenen Lebensabschnitten erneut liest, hat zum einen die Gelegenheit, sich an viele positive Ereignisse wieder zu erinnern (deshalb sollte man unbedingt auch die positiven Dinge notieren). Zum anderen besteht die Chance, die negativen Aspekte neu zu bewerten: Welche Lehren habe ich aus ihnen gezogen? Haben sie mich stärker gemacht? Welche Schlüsse kann ich mit den heutigen Erfahrungen aus vergangenen Niederlagen ziehen?
Momentaufnahme der Persönlichkeit
Immer, wenn man seine alten Aufzeichnungen liest, wird man feststellen, dass man nicht mehr derselbe wie damals ist. Gerade im Rückblick werden Dinge oft komplett anders wahrgenommen und bewertet. Diese Entwicklung ist im Idealfall positiv und gewollt. Das muss aber nicht zwingend der Fall sein.
Vielleicht stellt man auch fest, dass man im Laufe der Zeit viel von der Leichtigkeit und Lebensfreude früherer Jahre eingebüßt hat. Aber auch das sind wertvolle Erkenntnisse, die auch den Blick auf das Heute – und potenziell dann auch unser Handeln – beeinflussen werden.
Tagebuch schreiben und das Erinnern im Alter
Vor allem durch bessere Medikamente und die medizinische Versorgung werden die Menschen immer älter. Das bedeutet zugleich auch, dass es immer mehr Menschen mit typischen neurologischen Einschränkungen und Erkrankungen gibt.
Ich möchte mich hier nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, da ich weder Mediziner noch Gerontologe bin. Allerdings könnte ich mir besonders bei Schlaganfällen und Alzheimer-Erkrankungen gut vorstellen, dass detailliert Aufzeichnung von Erinnerungen für Reha und Betreuung sehr wertvoll sein könnten.
Natürlich wäre schon vorab zu klären, ob man dazu bereit ist, die Tagebuchaufzeichnungen (teilweise) für solche Zwecke zur Verfügung zu stellen. Aber auch jenseits dieser extremen Formen geistiger Beeinträchtigungen profitiert man im Alter ungemein von einer Tagebuch-Erinnerungsstütze.
Mit dem Tagebuch auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Ein weiterer positiver Nebeneffekt wäre denkbar. Der Mensch misst vergangene Zeit mittels Erinnerungen. Leider stammen die meisten Erinnerungen unseres Lebens aus der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne zwischen dem zehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Die Ereignisse vor dieser Zeit liegen größtenteils im Dunkeln; die Jahre danach werden routiniert „abgespult“ – außergewöhnliche bzw. neue Ereignisse bilden dann eher die Ausnahme. Weniger Erinnerungen führen aber zu subjektiv schneller vergehenden Zeit!
Das Schreiben eines Tagebuchs könnte eine interessante Strategie gegen die gefühlte Zeitbeschleunigung sein. Das Problem rasender Zeit liegt am Ausbleiben intensiver neuer Erinnerungen und nicht zuletzt am Vergessen. Das leuchtet ein: An Vergessenes kann man sich nicht mehr erinnern; insofern kann es auch nicht mehr zur Zeitmessung herangezogen werden.
Da Tagebücher ein probates Mittel gegen den Verlust von Erinnerungen darstellen, sollte sich theoretisch positiv bemerkbar machen. Der zweite Aspekt ist die Intensivierung der Erinnerungen durch das Aufschreiben: Durch das Umwandeln in die Textform sollte das Erlebte eine neue Qualität bekommen. Facetten von Ereignissen erhalten Aufmerksamkeit, die ihnen ohne Tagebuch nie zuteilgeworden wären.
Zeitstreckung rückwirkend: Marcel Proust
Es wäre sogar denkbar, dass man nachträglich die erlebte Zeit strecken könnte, indem man so viel Vergangenes wie nur irgendwie möglich festhält. Selbst wenn es sich dabei um Erlebnisse aus der Kindheit handelt. Marcel Proust schaffte auf diese Weise das literarische Meisterwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.“ Wobei man zugeben muss, dass seine Methodik reichlich extrem war.
Er verbrachte die Zeit von 1912 bis zum Ende seines Lebens 1922 in einem finsteren mit Korkplatten abgedichteten Zimmer, das er nur selten verließ. Die reizarme Umgebung sollte wohl dabei helfen, um die Erinnerungen an sein vergangenes Leben wieder auferstehen zu lassen. Das Ergebnis war ein am Ende 5000 Seiten langer Roman mit einer Unmenge an kleinsten Begebenheiten. Sicher ist diese Geschichte nicht zur Nachahmung empfohlen. Aber der grundlegende Mechanismus dürfte klar geworden sein.
Tagebuch schreiben ist einen Versuch wert
Die Fans von Tagebüchern verweisen in der Regel auf die Vorzüge des Formats, was die Psyche angeht und natürlich auch den Aspekt des Vergessens. Dem ist natürlich ohne Einschränkung zuzustimmen. Das expressive Schreiben ist ein anerkanntes Instrument, um Krisen zu bewältigen. Im kleineren Maßstab passiert beim Tagebuchschreiben Vergleichbares: Krisen und Probleme werden verschriftlicht; Klarheit und Kontrolle über die Situation stellen sich ein. Man fühlt sich besser.
Aber auch der Zeitaspekt von verschriftlichten Erlebnissen ist – wie im letzten Punkt verdeutlicht – nicht zu unterschätzen. Damit sich die positiven Wirkungen entfalten können, sind eine Reihe von Punkten zu beachten. Der folgende Beitrag „Tipps für das optimale Tagebuch“ (kommt demnächst) beschäftigt sich mit diesen.