Gewissenhaftigkeit hat in der heutigen Zeit einen etwas angestaubten Charme. Sie ist der sympathische Bruder des perfektionistischen Pedanten und zeichnet sich durch Eigenschaften wie Selbstkontrolle, Zielstrebigkeit und Genauigkeit aus. Schön und gut. Aber warum soll ausgerechnet Gewissenhaftigkeit unser Leben verlängern? Der Beitrag erläutert die Mechanismen, die gewissenhafte Menschen länger – und auch besser – leben lassen.
Inhalt
Länger leben:
Leere Versprechungen, volle Kassen
Jeder will lange leben. Und am besten auch möglichst gut und gesund. Entsprechend haben sich boomende Industrien entwickelt, die mit ihren Jungbrunnen-Versprechungen Milliarden umsetzen. Wer z. B. die Googleabfrage „Anti Aging“ eingibt, erhält über fünf Millionen Treffer. Nahrungsergänzungen und Fitnessprogramme sollen alles gut machen.
Und gut die Hälfte der Deutschen glaubt daran: Die 1,12 Milliarden Euro, die im Jahr 2016 für Nahrungsergänzungen ausgegeben wurden, sprechen da eine sehr deutliche Sprache. Und für chronisch Fortschrittsoptimistische gibt es Unsterblichkeitsszenarien wie die von Ray Kurzweil.
So weit möchte ich in diesem Beitrag allerdings nicht gehen. Solange wir unseren Geist noch nicht in einen Supercomputer uploaden können, sollten wir uns eher auf die schnöden Basics konzentrieren. Denn während die Beweislage für lebensverlängernde Pillen und spezielle Anti-Aging-Workouts noch reichlich dünn ausfällt, gibt es umfassende wissenschaftliche Belege für die lebensverlängernde Wirkung des Persönlichkeitsmerkmals Gewissenhaftigkeit.
Warum gewissenhafte Menschen länger leben
Gegenüber dem ganzen Sammelsurium an Vitaminen, Antioxidantien und unzähligen anderen Mittelchen, die das Leben länger und besser machen sollen, ist Gewissenhaftigkeit ein recht bieder daherkommendes Konzept. Es scheint eher aus einem Handbuch für Preußische Tugenden als moderner wissenschaftlicher Forschung zu entspringen. Dem ist aber ganz und gar nicht so! Schauen wir uns zuerst einmal genauer an, womit wir es überhaupt zu tun haben.
Gewissenhaftigkeit unter dem Mikroskop
Was bedeutet „Gewissenhaftigkeit“ aber nun konkret? Welche Verhaltensweisen sind bei gewissenhaften Menschen besonders ausgeprägt? Die Onlineausgabe des Dorsch-Lexikons für Psychologie liefert uns eine Reihe von typischen Merkmalen:
- Umsichtigkeit
- Ordentlichkeit
- Pflichtbewusstsein
- Ehrgeizigkeit
- Selbstdisziplin
- Besonnenheit
Es leuchtet im Umkehrschluss natürlich ein, wenn Merkmale wie Planlosigkeit, Nachlässigkeit und Unmotiviertheit entsprechend unterdurchschnittlich ausgeprägt sind.
Gewissenhaftigkeit könnte man als „gesunde“ Form des Perfektionismus sehen. Vor allem fehlen das unrealistische Streben nach Vollkommenheit und die vollkommen überzogene Fehlervermeidung, die aus der Angst vor negativem Feedback und Selbstzweifeln resultiert.
Wie sich Gewissenhaftigkeit auf die Lebenserwartung auswirkt
Es ist naheliegend, das gewissenhafte Menschen alleine aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zu „vernünftigem“ Handeln tendieren. Bereits an den oben aufgelisteten Merkmalen der Gewissenhaftigkeit lässt sich ein ausgeprägter Zukunftsbezug dieser Personen erkennen. Man kann also sagen, dass gewissenhafte Menschen bewusst und regelmäßig über die Konsequenzen ihres Handelns nachdenken.
Entsprechend trinken sie weniger Alkohol und rauchen seltener. Generell verhalten sie sich weniger gesundheitsschädlich und halten sich konsequenter an empfohlene Kontrolluntersuchungen beim Arzt.
Negativ formuliert könnte man den Gewissenhaften eine gewisse Langweiligkeit unterstellen, da sie generell dazu tendieren, gefährlichen Situationen (man denke hier z. B. an schnelles Autofahren oder Base-Jumping) eher zu meiden.
Und was sagt die Wissenschaft?
Die genannten Argumente für die Langlebigkeit von Gewissenhaften sind bereits sehr überzeugend. Trotzdem wollen wir es natürlich genauer wissen und werfen deshalb einen Blick auf die Forschung zu dem Thema.
Vorab muss man sagen, dass man Studien zu Fragen nach Lebenserwartungen und Langlebigkeit nicht mal schnell am Wochenende durchziehen kann. Es braucht eine ausreichend große Basis an Daten und natürlich auch sehr lange Zeitspannen.
Stanford University:
Terman-Studie und Howard Friedman
Bereits im Jahr 1921 untersuchte der Psychologe Lewis Terman den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Gesundheit. Er wollte vor allem mit dem damals kursierenden Vorurteil aufräumen, dass intelligente Menschen weniger gesund seien, als solche mit einem niedrigeren Intelligenzquotienten.
Seine Untersuchung baute auf gut 1500 Grundschulkindern auf, die alle einen IQ von über 135 hatten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1956 kam Terman zu dem Schluss, dass die schlauen Kids einen besseren Gesundheitszustand als ihre Altersgenossen hätten. Was ihn zu der bizarren Empfehlung brachte, durch bewusste Züchtung den IQ der Menschen ausbauen sollte.
Im Jahr 1990 begann Howard Friedman mit den Terman-Daten zu arbeiten. Er kam allerdings zu ganz anderen Ergebnissen: Es ließ sich kein Zusammenhang zwischen der Gesundheit und Sozialstatus oder Intelligenz herstellen. Gewissenhaftigkeit allerdings schlug sich deutlich in der Lebenserwartung nieder (siehe hier).
Friedman und seine Kollegin Margaret Kern gingen aber noch weiter. Insgesamt werteten sie Daten aus 20 verschiedenen Studien mit fast 9000 Teilnehmern aus, die zusätzlich aus sechs unterschiedlichen Ländern stammten. Das Ergebnis bestätigte erneut den Zusammenhang zwischen Gewissenhaftigkeit und Langlebigkeit. Wer es genauer wissen und statistische Hintergründe erfahren will, hier finden sich weitere Infos.
Uni Tübingen:
Fleißige Luxemburger leben länger
Relativ aktuell sind Forschungsergebnisse der Uni Tübingen. Sie werteten Daten von Luxemburger Schülern aus dem Jahr 1968 aus. Es wurden damals 2500 Schüler der sechsten Klasse zu ihren Gedanken und ihren Lebensgewohnheiten befragt. Sie sollten sich zudem hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen selbst bewerten. Auch die Lehrer hatten angegeben, für wie fleißig sie die einzelnen Schüler hielten.
Die Tübinger Forscher stellten fest, dass die Sterblichkeit unter den als fleißig eingestuften Schülern geringer war, als bei den „faulen“. Im Vergleich stellte sich sogar heraus, dass der Faktor Fleiß (den ich hier kurzerhand als Komponente der Gewissenhaftigkeit werte) größere Auswirkung auf die Langlebigkeit hatte als Intelligenz (diese wurde 1968 ebenfalls gemessen) oder der familiäre Hintergrund.
Was den noch übrig gebliebenen Alt-69ern gefallen dürfte, ist die Tatsache, dass Respektlosigkeit gegenüber den Eltern keine negativen Auswirkungen auf die Lebenserwartung hatten. Erstaunlich, dass gleiches auch für „Nachlässigkeit“ galt – ein Ergebnis, das im Widerspruch zur These der lebensverlängernden Gewissenhaftigkeit steht.
Offensichtlich kompensiert Fleiß ein gewisses Maß an Nachlässigkeit, was die Lebenserwartung angeht. Und wenn es nur daran liegt, dass „Fleißige“ eher beruflich Karriere machen und sich dadurch bessere medizinische Versorgung leisten können 😉
Allerdings sagt die Leiterin der Untersuchung, Dr. Marion Sprengler, dass über den festgestellten Zusammenhang noch viele Fragen offen sind und weitere Forschung notwendig sei. Man darf gespannt sein.
Fazit:
Altbekanntes –
wissenschaftlich fundiert
Wie so oft muss auch bei diesem Thema das Rad nicht komplett neu erfunden werden. Es braucht keine Hochbegabung oder Anti-Aging-Pillen um die Wahrscheinlichkeit eines langen Lebens zu erhöhen. Egal was immer auch von selbst ernannten Experten, der Pharma- oder Fitnessindustrie oder anderen behauptet wird: In erster Linie geht es um gute Entscheidungen.
Diese Entscheidungen müssen bei Weitem nicht perfekt sein! Es ist nicht entscheidend, ob ich ausschließlich Bioprodukte konsumiere bzw. ob Fleisch 10, 20 oder 30 Prozent meiner Ernährung ausmacht (oder ob ich sogar vegan lebe). Gewissenhaftigkeit als grundlegende Einstellung fragt immer auch nach den Konsequenzen des Handelns. Meiner Meinung nach liegt darin ihre besondere Bedeutung.
Gewissenhaftigkeit ist Qualitätskontrolle!
Wer darüber nachdenkt, was Handlungen langfristig nach sich ziehen (hier sind wir wieder bei den Zeitperspektiven), wird seltener Opfer von Kontrollverlusten. Letztendlich wissen wir doch alle, dass Wasser für uns besser ist als Bier und der selbst zubereiteter Salat einer Tiefkühlpizza vorzuziehen ist. Ist es nicht so, dass wir für die meisten Lebensbereiche eine grundlegende Vorstellung davon haben, was gut, weniger gut oder sogar schlecht ist?
Wer zu stark in der Gegenwart verwurzelt ist, tendiert zur Ungeduld und „schiebt“ die Verantwortung für sich selbst in die Zukunft – und läuft so Gefahr, niemals Verantwortung zu übernehmen. Der Gewissenhafte hat weniger Probleme mit den Versuchungen der „zeitlichen Kurzsichtigkeit“ und kann den Versuchungen des Hier-und-Jetzt besser die Stirn bieten. Und so bedeutet Gewissenhaftigkeit letztendlich nicht nur, die Dinge richtig, sondern auch das Richtige zu tun.