Erinnerungen werden leicht als Schnee von gestern abgetan und dabei ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft übersehen. Fakt ist: Wir sind Erinnerung! Die Gesamtheit der Erinnerungen formt unsere Identität und ermöglicht erst die grundlegende Vorstellung von Zeit. Erinnerungen sind elementar für unser Menschsein und zugleich trügerisch, denn falsches Erinnern und Vergessen sind eher die Regel als die Ausnahme. Der Beitrag zeigt, warum man seinen Erinnerungen nicht immer trauen sollte und dass unsere Vergangenheit nie ganz abgeschlossen ist.
Inhalt
Wir sind Erinnerung
Was man vergisst, hat man im Grunde nicht erlebt.
Ernst R. Hauschka
Irgendwann zwischen dem zweiten und dem fünften Lebensjahr flackern bei den meisten Menschen die ersten Erinnerungsfragmente auf. Sie sind weder zusammenhängend, noch besonders detailliert. Die ersten Lebensjahre sind vor allem vom Dunkel des Nichterinnerns geprägt, was daran liegt, dass Babys und Kleinkinder weder die Gehirnstruktur noch die kognitiven Fähigkeiten besitzen, um Erinnerungen zu bilden, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben.

Das Fotoshooting ist schnell vergessen, aber das Beweisfoto bleibt!
Würde dieser Zustand anhalten, wären wir nicht dazu in der Lage, überhaupt ein Verständnis von Zeit zu entwickeln. Ohne die Fähigkeit zur Erinnerung wären wir im Hier und Jetzt gefangen: Alles wäre Gegenwart; kein Lernen und keine Vorstellung von der Zukunft möglich – eine Situation, wie sie im Tierreich die Regel ist.
Zum Glück ist dem nicht so. Nach der Vergesslichkeit der ersten Jahre sammeln sich enorme Mengen an Erinnerungen an, die unsere Persönlichkeit prägen und somit das gesamte weitere Leben beeinflussen.
Das autobiografische Gedächtnis oder wer wir sind
Nach dieser Phase der „infantilen Amnesie“ beginnt unsere rasante Reise durch die Zeit. Kindheit, Jugend und die Zeit als junger Erwachsener zeichnen sich durch eine Vielzahl an neuen Erlebnissen und Erfahrungen aus. Es ist kein Wunder, dass die meisten Erinnerungen aus der Zeit zwischen dem zehnten und dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr stammen.
Diese Zeit ist voller sogenannter „Pioniererfahrungen“: der erste Schultag, die erste Beziehung; später der erste Job und das erste Auto. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Der gemeinsame Nenner solcher Erfahrungen ist, dass sie neu sind und ihnen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zuteil wird. Eben diese Aufmerksamkeit ist es, die für eine intensive Verankerung im Gedächtnis sorgt.

Auch ohne Tagebuch eine Zeit mit bleibenden Erinnerungen
In dieser Phase bilden sich grundlegende Vorstellungen und Werte; die Identität verfestigt sich. Es ist schon erstaunlich: 70 Prozent aller Erinnerungen eines Lebens stammen aus dem ersten Lebensdrittel – und das, obwohl die ersten Jahre weitestgehend vergessen werden!
Wie die Vergangenheit auf die Gegenwart wirkt
Obwohl sich unsere Erinnerungen auf vergangene und somit abgeschlossene Ereignisse beziehen, haben sie nicht unerheblichen Einfluss auf unsere Handlungen in der Gegenwart. Es ist deshalb nicht die ganze Wahrheit, Vergangenes als erledigt und irrelevant zu bewerten.
Ob es sich dabei um zurückliegende Entscheidungen handelt, die sich heute handfest und greifbar in Form von Abbuchungen auf dem Kontoauszug bemerkbar machen ist nicht entscheidend. Alles, was seinen Weg ins Gedächtnis gefunden hat, beeinflusst unser Handeln in der Gegenwart und somit auch in unserer Zukunft.
Und in vielen Fällen sammeln sich hier unbemerkt Erinnerungs-Altlasten an, die sich z. B. in Form von Selbstzweifeln oder Angst in unser Handeln einmischen. Aber es wird noch problematischer: Ein nicht unerheblicher Teil der Erinnerungen ist schlicht und ergreifend falsch!
Trügerische Erinnerungen
Das persönliche neuronale Erinnerungstagebuch, in dem wir unsere ganzen Erlebnisse, Erfahrungen und Lernbemühungen speichern, ist das autobiografische Gedächtnis. In dieser Chronik unseres Lebens landen all die mannigfaltigen Erinnerungen: Vom ersten Stofftier, unserem Kinderzimmer und der letzten Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
Allerdings ist dieses ganz persönliche Dokumentation ziemlich schlampig geführt: Sie strotzt vor Lücken, die kreativ mit konstruierten (nicht selten falschen) Erinnerungen ausgefüllt sind. Manche Einträge verblassen mit der Zeit und sind kaum noch oder nicht mehr zu entziffern. Und viel zu oft werden negative Erinnerungen besonders deutlich hervorgehoben. Alles problematische Eigenschaften, die uns nicht immer in vollem Umfang bewusst sind.
Tatsächlich bilden sich die meisten Menschen – wenn sie nicht gerade auf der Suche nach einer Ausrede sind – ziemlich viel auf ihr Erinnerungsvermögen ein. Wie oft kommt es zu Diskussionen um gemeinsame Erinnerungen mit Freunden oder dem Partner, die sich darum drehen, wer sich denn nun „richtig“ erinnert. Vermutlich tut es keiner von beiden. Tatsächlich ist anzuzweifeln, dass es überhaupt Erinnerungen gibt, die völlig mit der erlebten Realität übereinstimmen.
Sie sind nicht wie gespeicherte Daten auf einer Festplatte oder eine Videoaufzeichnung. Die unterschiedlichen Sinneseindrücke werden nämlich zerlegt und in den verschiedenen, für den jeweiligen Informationstyp zuständigen, Regionen des Gehirns abgelegt. Ein Prozess, der als „Codierung“ bezeichnet wird. Dabei wird nur das gespeichert, was als wichtig bewertet wird; die Lücken werden mit bereits bekannten oder frei erfundenen Versatzstücken ausgefüllt. Für den Anspruch auf Wahrheit bzw. Richtigkeit eine eher suboptimale Methode.
Beispiele für falsche oder verzerrte Erinnerungen
Es gibt es eine ganze Reihe von Einfallstoren für Erinnerungen, die mit dem tatsächlich Erlebten wenig zu tun haben. Hier eine Auswahl:
- Konfabulation: Eine extreme aber oft vorkommende Form falscher Erinnerung, bei der komplette Episoden einfach erfunden werden. Typisch für die scheinbar vorhandenen Erinnerungen aus der frühesten Kindheit, die faktisch aber unmöglich sind. Im Experiment war es bei gut einem Drittel der Testpersonen möglich, solche Erinnerungen mit geringem Aufwand unterzujubeln.
- Vergesslichkeit: Eher banal ist die Tatsache, dass man erlebte Dinge natürlich auch einfach vergisst.
- Rekonstruktion: Erinnerungen sind immer nur der Versuch einer Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen mit den unvollständigen „Notizen“ aus dem autobiografischen Gedächtnis. Nicht nur, dass diese Notizen unvollständig sind – die jeweilige Stimmungslage nimmt Einfluss auf diese Wiederherstellung! So können Erinnerungen zum gleichen Ereignis – je nach Stimmung – sehr unterschiedlich ausfallen.
- Erinnerungen verändern sich mit der Zeit: Spricht man mit anderen Personen über Vergangenes, führt dies ebenfalls zu Veränderungen. In der Regel wird man nur eine Auswahl der Erinnerung wiedergeben. Das führt dann allerdings zu einer aktiven Abschwächung der nicht genannten Details.
- Quellenverwechselung: Nicht selten kommt es vor, dass eine länger zurückliegende Erinnerung gar nicht erlebt wurde. Stattdessen ist es eine Sequenz aus einem Film, einem Buch oder einer Geschichte, die man im Gespräch mit anderen aufgenommen hat. Quellenverwechslung und Konfabulation treten übrigens auch kombiniert auf.
Unbeständigkeit der Erinnerungen zum eigenen Vorteil nutzen!
Feig, wirklich feig ist nur, wer sich vor seinen Erinnnerungen fürchtet.
Elias Canetti
Bisher scheint es so, als ob die schlechten Nachrichten überwiegen würden. Es wurde gezeigt, dass Erinnerungen – ob wir wollen oder nicht – in unsere aktuellen Entscheidungen hineinpfuschen. Das ist unvermeidbar, da sie letztendlich bestimmen, wer wir sind.
Deutlich problematischer erscheint dann schon die Erkenntnis, dass sie massiv fehlerbehaftet sind – man kann ihnen also nicht wirklich über den Weg trauen. Wie so oft hat die Medaille aber zwei Seiten und in diesem Falle sogar eine erstaunlich gute! Es ist relativ einfach, um die Schwächen von Erinnerungen in Stärken zu verwandeln.
Wie bereits gesagt: Erinnerungen befinden sich in permanentem Wandel – ohne das wir uns dieser Tatsache bewusst sind oder gar bewusst Einfluss nehmen. Aber was wäre, wenn man genau das versuchen würde?
Dank wissenschaftlicher Studien sind viele der Mechanismen bekannt, die unsere Erinnerungen verändern. Es zeigte sich deutlich, dass die Art und Weise, wie wir Vergangenes bewerten massiven Einfluss auf unsere Verfassung im Heute hat.
Eine Methode, die im Experiment schon nach kurzer Zeit positive Auswirkungen zeigte, findet sich im Buch „Die neue Psychologie der Zeit“ von Philip Zimbardo und John Boyd.
Dankbare Sicht auf Vergangenes hilft
Was für ein herrliches Leben hatte ich!
Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.
Colette
Die Testpersonen wurden dazu aufgefordert, immer am Ende einer Woche die Erlebnisse Revue passieren zu lassen. Die Probanden wurden dabei in drei Gruppen (negative, neutrale und positive Erinnerungen) aufgeteilt. Wer sich an die positiven Ereignisse erinnerte, fühlte sich am Ende der neun Wochen dauernden Studie emotional und sogar physisch besser. Die „positive“ Gruppe hatte sogar mehr Sport gemacht als die anderen Teilnehmer des Experiments.
Es zeigt sich hier deutlich, dass die Art und Weise, wie wir Vergangenes bewerten massiven Einfluss auf unsere Verfassung im Heute hat. Aber was soll man tun, wenn die Ereignisse tatsächlich „schlecht“ waren? Man sollte bedenken, dass auch negativen Ereignissen fast immer etwas Positives abzugewinnen ist. Es ist dann eher eine Frage der Perspektive: Ist das Glas denn nun halb voll oder eher halb leer?
- Autounfall – Zum Glück wurde niemand verletzt/getötet!
- Unzufriedenheit im Job – Ich habe ein Einkommen und die Möglichkeit, mich neu zu orientieren!
- Krankheit – Ich werde wieder gesund, das Glück hat nicht jeder!
Die beiden Wissenschaftler stellen außerdem eine Technik vor, die sie als „Rekonstruktion einer positiven Vergangenheit“ bezeichnen. Dabei geht es um die gezielte Neuinterpretation von einschneidenden Lebensereignissen, die man als schlecht oder wenigstens problematisch wahrnimmt.
Fazit
Erinnerungen bestimmen, wer wir sind und wirken somit unmittelbar auf unsere Gegenwart und somit auch auf die Zukunft ein. Es sollte dabei aber immer bedacht werden, dass sie nie eine exakte Darstellung der Vergangenheit sind.
Als oft ungenaue und fehlerbehaftete Rekonstruktion sollte man ihnen mit einer gesunden Skepsis begegnen. Auf keinen Fall ist es klug, dogmatisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu pochen.
Dass Erinnerungen keine harten Fakten, sondern „formbar“ sind, hat sogar positive Seiten. Schließlich ermöglicht dieser Umstand, dass man ganz bewusst eine sachlich-positive (Neu-)Bewertung von Erlebtem vornehmen kann und so die Lebensqualität im Hier und Jetzt verbessert. Man tut also gut daran, immer wieder auf positive Weise die Vergangenheit Revue passieren zu lassen.