Kluger Umgang mit Zeit bedeutet auch, bewusst Ziele zu setzen und diese konsequent zu verfolgen. Allerdings kommt es nicht selten zu subtiler Selbstsabotage. Der Beitrag stellt eine moderne Form des Ablasshandels mit sich selbst vor, das sogenannte Moral Licensing. Wie so oft steht am Anfang der gute Vorsatz. Vielleicht hat man sich vorgenommen, weniger Geld auszugeben. Oder mehr für Gesundheit und Fitness zu tun. Und natürlich bieten sich schnell die ersten Gelegenheiten, für die lobenswerten Ziele ambitioniert Initiative zu ergreifen. Es wird eine vernünftige Einkaufsliste verfasst, an die man sich konsequent halten will; das eingestaubte Mountainbike wird aus dem Keller geholt und für die eine Tour geputzt.
Inhalt
Moral Licensing –
Selbstsabotage durch „Belohnungen“
Die ersten Schritte auf der Straße zum Erfolg sind also getan. In der Realität liegt aber ein großer Stolperstein auf dem Weg zum ausgeglichenen Dispo und der schlanken Sommerform. Dieser dicke Brocken hat einen Namen: Moral Licensing, auch als Erlaubniseffekt bezeichnet. Trotz aller guten Vorsätze verleitet dieses Phänomen dazu, die eigenen Interessen subtil zu sabotieren. Beispiele gefällig?
Fett durch Sport
Nach einem (mehr oder weniger) intensiven Sportprogramm passiert nicht selten Folgendes: Man belohnt sich für all die Entbehrungen der sportlichen Plackerei. Eine Pizza mit extra Käse ist da natürlich das Mindeste – man war ja bereits aktiv. Einen Monat später zeigt die Waage allerdings zwei Kilo mehr an als zuvor.
Pleite durch Sonderangebote
Im Supermarkt wird diszipliniert die zuvor erstellte Einkaufsliste abgearbeitet. Die Tatsache, dass die spanischen Schlangengurken im Sonderangebot sind, lässt Freudentränen aufsteigen. Ja, ja – so spart man sich reich! Mit einem Gefühl der Hochstimmung in der Einkaufstasche fährt man heim. Und mit dem gleichen Gefühl bestellt man später am Tag die schicke Uhr im Internet.
Moral Licensing –
Ablasshandel mit sich selbst
Keine Frage: Tut man etwas Gutes, fühlt man sich auch gut. Egal, ob man sich zum Sport aufrafft oder irgendeine Form von Verzicht zugunsten eines übergeordneten Ziels geübt hat – ein Hochgefühl macht sich breit. Schließlich ist man sich darüber bewusst, das Richtige getan zu haben.
Leider hat die Medaille eine Kehrseite. Wer Gutes tut, gestattet sich anschließend oft etwas Schlechtes. „Schlecht“ meint hier vor allem, dass es für die Erreichung der gesteckten langfristigen Ziele wenig hilfreich oder sogar kontraproduktiv ist. Die zweifelsohne gute Handlung im Vorfeld übernimmt dann eine Alibifunktion, um anschließend um so mehr über die Stränge zu schlagen.
Wie schon angesprochen werden sportliche Aktivitäten für exzessives (ungesundes) Essen im Anschluss instrumentalisiert. Oder der vernünftige Salatteller wird im Anschluss durch einen XXL-Eisbecher versüßt. Ein paar gesparte Euro hier rechtfertigen eine teure Luxusanschaffung da. Vernünftig geht irgendwie anders.
Kreativer Selbstbetrug
Schon zur Zeit Luthers hat sich der Ablasshandel als erfolgreiches Geschäftsmodell bewährt. Damals wurde reuigen Sündern vergangenes Fehlverhalten durch Zahlung von Geld vergeben – und nebenbei auch noch die Finanzierung des Petersdoms elegant gesichert.
Worüber sich Luther zurecht die Haare raufte, kann das Moral Licensing-Opfer nur müde lächeln. Der moralische Ablasshandel in unseren grauen Zellen ist die absolute Oberliga einer wirren Selbstbetrugs-Logik.
Wer sich tugendhaft fühlt, lässt Fünf gerade sein
Nicht nur ein wenig Sport oder ein paar gesparte Cent können das Einfallstor für komplett gegenläufige Handlungen danach sein. Ein wahres Bilderbuchbeispiel konnte man Ende 2017 zur Kenntnis nehmen. Der konsequente Abtreibungsgegner Tim Murphy geriet wegen einer außerehelichen Affäre in den Fokus der Medien.
Verschärft wurde der Skandal vor allem dadurch, dass der US-Kongressabgeordnete offensichtlich kein Problem damit hatte, seiner Geliebten einen Schwangerschaftabbruch als Option vorzuschlagen. Wohlgemerkt handelt es sich bei Murphy um einen Politiker, der den Ruf eines Anti-Abtreibungs-Kreuzritters hat! Letztendlich war die Frau nicht schwanger; falscher Alarm also. Der unmittelbare Rücktritt von Murphy wegen der Geschichte war allerdings so real wie sein bigottes Fehlverhalten.
Sicher ein extremes Beispiel. Der grundlegende Mechanismus ist allerdings eindeutig: Wer davon überzeugt ist, sich moralisch gut oder sogar hervorragend zu verhalten, rechtfertigt damit zukünftiges Fehlverhalten! Der Mechanismus ist mit einem Guthaben auf dem Konto zu vergleichen. In unserem Fall ist moralisches Verhalten die Währung, die zuvor eingezahlt wurde. Fehltritte werden dann mit diesem Guthaben ausgeglichen.
Den Sündern zur Zeit Luthers konnte man wenigstens noch ein gewisses Maß an Einsicht zugutehalten. Man hatte eine Verfehlung begangen und wollte die Sache jetzt ausbügeln (und ein paar Jahre weniger im Fegefeuer brennen). Beim Moral Licensing wird offensichtlich schädliches zukünftiges Verhalten – wie von Zauberhand – durch vergangene gute Taten neutralisiert. Das mag mit Soll und Haben auf dem Bankkonto funktionieren. Für Handlungen im realen Leben nicht.
Ich könnte ja Gutes tun…
Es wird aber noch besser. Das moralisch richtige Verhalten muss nicht einmal wirklich stattgefunden haben, um als Alibi für irgendwelchen Unfug missbraucht zu werden! Tatsächlich genügt es schon, sich die gute Handlung nur vorzustellen. In Untersuchungen zeigte sich, dass der Gedanke daran, einen Geldbetrag für bedürftige Menschen zu spenden dazu führte, dass man anschließend dazu bereit war, mehr Geld für die eigenen Luxusanschaffungen (z. B. Kleidung, die man nicht benötigt) auszugeben.
Wer also davon überzeugt ist, im Allgemeinen immer das Richtige zu tun oder auch nur sich die Gute Handlung vorstellt, hat sich selbst einen Persilschein für Schwäche und zukünftiges Fehlverhalten ausgestellt.
Moral Licensing –
verstehen und verhindern
Vermutlich wird niemand dem inneren Ablasshandel durch Moral Licensing komplett entkommen können. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, die Anfälligkeit für diese Form der Selbstsabotage zu reduzieren. Drei gedankliche Schritte ermöglichen dies:
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Nur das Ziel ist das Ziel!
Unsere Handlungen werden immer danach bewertet, ob sie mit bestimmten Zielen in Einklang stehen. Wer körperlich gesund sein möchte, kann aus diesem Ziel ableiten, welche Handlungen zur Zielerreichung hilfreich (gutes Essen, Sport) oder eher kontraproduktiv (Drogen, Bewegungsmangel) sind.
Egal was man tut, die Frage muss daher immer lauten: „Bringt mich mein Handeln dem Ziel näher?“Es sollte niemals darum gehen, den Fokus auf bisher gemachte (Teil-)Fortschritte zu legen. Diese sind schön und gut, da man an ihnen erkennen kann, dass es vorangeht. Sie beinhalten aber auch die Gefahr, sich auf ihnen auszuruhen oder sie für Moral Licensing zu missbrauchen.
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Moral beiseite lassen!
Ein bestimmtes Verhalten moralisch aufzuladen bringt nichts außer einer ambivalenten Einstellung. Menschen werden immer Zucker, Nikotin und Sex verlockend finden. Mit der Moralkeule wird man solches Verlangen aber nicht in den Griff bekommen – die Erfahrungen aus der Praxis belegen das nur zu gut.
Immer wird unser Geist auf kreative Art und Weise Argumente suchen, die unsere Moral und letztendlich auch unsere Willenskraft untergraben. Auch hier ist es deutlich wirkungsvoller, den Blick auf das angestrebte Ziel zu richten. Was will ich wirklich? Wer immer wieder den Blick auf die langfristigen Ziele (Gesundheit, Qualität der Beziehung etc.) richtet, kann im Hier und Jetzt gute Entscheidungen treffen. -
Schädliches Verhalten darf nicht als Belohnung gelten!
Solange wir uns mit Dingen belohnen, die tatsächlich schädlich sind, müssen wir unsere grundlegenden Motivationen öfter aus der Mottenkiste holen. Wir setzen unsere Willenskraft nicht ein, um Teilerfolge gleich wieder zunichtezumachen.
Wer zwei Kilo abgenommen hat, sollte nicht an die „Belohnung“ durch Schokoriegel denken, sondern sich vielmehr (wieder) bewusst machen, warum er gesünder isst (Gesundheit, weiterer Gewichtsverlust etc.).
Bei allen Anstrengungen muss demnach immer die Frage nach dem „Warum?“ präsent sein. Sie ist der beste Schutz gegen unlogischen und deshalb kontraproduktiven Ablasshandel mit sich selbst. -
Keine Anleihen auf die Zukunft aufnehmen!
Typische Argumentationen für Kontrollverluste gehen davon aus, dass man in Zukunft alles besser machen wird. „Heute gehe ich nochmal zu McDonalds; ab morgen esse ich dann gesund!“ Dieser Trick wird auch gerne bei der „letzten“ Zigarette, Schokolade oder dem aufgeschobenen Sport angewendet. Immer wird dabei von einem besseren Ich in der Zukunft ausgegangen, das ein unrealistisch optimales Verhalten an den Tag legen wird.
Fazit: Sich immer wieder auf die Ziele konzentrieren
Moral Licensing verleitet uns dazu, dauernd gegen unsere eigentlichen Interessen zu handeln. Dabei verkauft es uns Selbstsabotage als Belohnung.
Natürlich sind die Handlungen, die uns den gesteckten Zielen näherbringen oft anstrengend. Entscheidend ist vor allem der Betrachtungswinkel. Die Argumentation sollte nicht lauten „Ich tue es, weil es moralisch und/oder richtig ist“. So wird sich keine echte Motivation und dauerhaftes Durchhaltevermögen einstellen.
Besser ist es, darauf abzustellen, dass eine Handlung uns zu dem gewünschten attraktiven Ziel führt. Umgekehrt kann es wachrütteln, wenn man sich die negativen Folgen des inneren Ablasshandels in aller Deutlichkeit bewusst macht.