Unternehmen wir eine Zeitreise in das Berlin der 1920er Jahre. Dort können wir erfahren, was die Mittagessen-Bestellung bei einem bemerkenswerten Kellner und eine russische Psychologin mit unerledigten Aufgaben, Cliffhangern und nervigen Ohrwürmern zu tun haben. Zudem gibt es weitere Argumente gegen Aufschieberitis und für schriftliches Planen. Und natürlich Tipps, mit denen man den Kopf von den erwähnten Ohrwürmern wieder frei bekommt.
Inhalt
Ein erstaunlicher Kellner und verblüffte Psychologen
Wir befinden uns im Berlin der 20er Jahre. Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges profitierte auch die deutsche Hauptstadt vom weltweiten wirtschaftlichen Aufschwung. Kunst, Kultur und Wissenschaft erlebten eine kurze Blütezeit. Die 4-Millionen-Metropole bot ein Bild der Gegensätze: Bettelnde Kriegsinvaliden mit fehlenden Gliedmaßen gehörten ebenso zum Bild der Stadt, wie Jazzbars, Charleston-Tänzer und die Modedroge Kokain.
In dieser turbulenten Zeit soll sich folgende Begebenheit zugetragen haben: Ein Gruppe von Studenten und Professoren ging in der Nähe der Berliner Humboldt-Universität zum Mittagessen. Der Kellner nahm die umfangreiche Bestellung auf, ohne Hilfsmittel wie Stift und Zettel zu benutzen. Alles wurde korrekt serviert; die Gäste waren von dieser Gedächtnisleistung nachhaltig beeindruckt.
Nachdem gegessen und bezahlt war, verließ die Gruppe das Lokal. Allerdings hatte einer der Studenten etwas im Lokal vergessen und musste deshalb nochmals umkehren. Als er den Kellner fragte, konnte dieser sich jedoch nicht einmal an den Gast beziehungsweise wo dieser gesessen hatte, erinnern. Der Kellner bemerkte das Erstaunen des Studenten und erklärte, dass er sich nur die offenen Bestellungen merken könne. „Wenn bezahlt ist, vergesse ich alles sofort wieder.“
Die Gruppe diskutierte dieses Erlebnis. Man stellte sich die Frage, ob der Geschichte eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegen könnte. Auch die russische Psychologiestudentin Bluma Zeigarnik und ihr Mentor Professor Kurt Lewin gehörten zu dieser Gruppe.
Die Forschungsergebnisse der jungen Studentin erschienen 1927 in ihrer Dissertation „Das Behalten erledigter und unerledigter Aufgaben“. Zudem sollte sie später als Namensgeberin des Zeigarnik-Effekts Unsterblichkeit erlangen. Schauen wir uns die brennende Frage an, die Zeigarnik nicht mehr loslassen sollte.
Zeigarnik-Effekt:
Unerledigtes bleibt im Kopf
Zeigarnik untersuchte, ob es für das Erinnern einen Unterschied macht, wenn Handlungen abgeschlossen sind oder nicht. Tatsächlich ergaben Tests mit Versuchspersonen, dass unerledigte Handlungen etwa doppelt so gut behalten werden, wie die erledigten.
Die grundlegende Aussage des Zeigarnik-Effektes lautet deshalb, dass nicht abgeschlossene Aufgaben stärker im Gedächtnis verankert sind. Der Effekt tritt auch ein, wenn noch gar nicht mit der Tätigkeit angefangen wurde – die Absicht, die Handlung irgendwann in der Zukunft vorzunehmen, reicht bereits aus.
Alle unsere Absichten sind „gespannte Systeme“ –
nur wenn wir diese angemessen fertigstellen,
baut sich die Spannung ab.
Für das bessere Erinnern unerledigter Aufgaben machte die Forscherin eine vorhandene Restspannung im Gehirn verantwortlich, die aus einem sogenannten „Quasibedürfnis“ entsteht. Dieses drückt den Willen aus, eine Aufgabe abschließen zu wollen. Immer, wenn wie aus dem Nichts Gedanken an Unerledigtes aufblitzen, machen sich solche Restspannungen bemerkbar.
Dabei ist auch von Bedeutung, ob man mit dem Abschluss der Aufgabe zufrieden ist. Ist man mit dem Ergebnis nämlich unzufrieden, hilft es auch nicht, wenn die Aufgabe abgeschlossen wurde. Sie wird in den Gedanken weiter eine aktive Position – mit negativem Beigeschmack – einnehmen.
Die dunkle Seite des
Zeigarnik-Effekts
Der Mechanismus scheint auf den ersten Blick vor allem positive Auswirkungen zu haben. Schließlich ist es von Vorteil, Aufgaben abzuschließen. Aber was ist mit den Fällen, in denen man zum Beispiel ungeliebte Aufgaben aufschiebt? Oder, wenn viel mehr zu tun ist, als man überhaupt bewältigen kann? Besteht vielleicht sogar ein gewisses Manipulationspotenzial? Schließlich ist es verlockend, in einer reizüberfluteten Gesellschaft bestimmte Botschaften den Menschen mit „Erinnerungsgarantie“ ins Gehirn brennen zu können…
Cliffhanger = Zeigarnik
Tatsächlich wird der Zeigarnik-Effekt sehr gerne von Werbe-Profis und Filmemachern genutzt, um die Kunden / Zuschauer bei der Stange zu halten:
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- Zwischen den einzelnen Staffeln von Fernsehserien werden sogenannte Cliffhanger platziert. Natürlich will man wissen, wie es weitergeht, und ist dementsprechend auch in der nächsten Staffel ein treuer Zuschauer.
- In der Produktwerbung werden immer öfter Geschichten erzählt. Auch hier wird immer häufiger eine längere Geschichte auf mehrere Werbespots verteilt und ebenfalls auf die Cliffhanger-Masche (= Zeigarnik-Effekt) zurückgegriffen.
Ohrwürmer und andere Nebenwirkungen
Wie bereits gesagt: An sich ist es nicht schlecht, einmal angefangene Dinge auch zum Abschluss zu bringen. Leider kann die innere Erinnerungsfunktion durch eine Reihe von „Nebenwirkungen“ auch ganz schön die Nerven strapazieren. Dadurch, dass Erinnerungen an Unerledigtes besser im Gehirn haften bleiben, melden sie sich auch immer wieder ungefragt zu Wort.
Dieser Mechanismus wirkt auch, wenn wir gerade besonders penetrant-nervige Musiktitel einfach nicht aus unserem Kopf bekommen können. Hört man so ein Machwerk im Radio, wird oft schnell der Sender gewechselt. Aber genau das verstärkt den Effekt!
Der unvollständig abgespielte Song wird durch den vorzeitigen Abbruch in gewisser Weise unfertig – genau wie eine unerledigte Aufgabe. Und wie wir gesehen haben, führt gerade das dazu, ihn besser in die Gehirnwindungen einzuätzen. Fazit: Ab jetzt Last Christmas immer zu Ende hören!
Wenn die innere To-do-Liste außer Kontrolle gerät:
Schlaf- und Konzentrationsstörungen
Der Zeigarnik-Effekt ist in gewisser Weise eine innere To-do-Liste, die uns ungefragt mit Gedanken an Unerledigtes „bombardiert“. Jeder kennt vermutlich die Situation, wenn ein Problem aus dem Bereich des Berufs auch am Wochenende immer wieder durch unsere grauen Zellen geistert. Man kann dann weder abschalten noch sich richtig entspannen. Im schlimmsten Fall sammeln sich viele unerledigte Dinge an, die sich permanent zu Wort melden und die Konzentration nachhaltig stören.
Im Extremfall kann der Zeigarnik-Effekt so weit aus dem Ruder laufen, dass es zu ernsthaften Schlaf- und Konzentrationsstörungen kommt. Besonders Menschen, die zu anhaltendem Grübeln tendieren, sind hier besonders gefährdet. Sie setzen sich mit den negativen Gedanken an Unerledigtes und Probleme häufig nicht im Sinne einer konstruktiven Problemlösung auseinander – die gleichen unerfreulichen Gedanken (noch so viel zu tun, wie soll ich das alles nur schaffen?) werden immer wieder durchgekaut. Früher oder später findet man sich in einer erschöpfenden Abwärtsspirale und bekommt tatsächlich kaum noch etwas auf die Reihe.
Was kann aber gegen solche Fehlentwicklungen getan werden? Vor allem: wie soll man Gedanken, die ihren Ursprung im Unbewussten haben, kontrollieren? Tatsächlich gibt es mehr oder weniger geeignete Wege, der außer Kontrolle geratenenen Erinnerungsfunktion Einhalt zu gebieten.
Wie man die innere Stimme in den Griff bekommt
Was ist also zu tun? Wie wir gesehen haben, erinnert uns unser Gehirn an unerledigte und geplante Aufgaben, ohne das wir dies unmittelbar kontrollieren könnten. Der erste (zu) einfache Ratschlag lautet deshalb, möglichst wenig aufzuschieben und Aufgaben, die man begonnen hat, möglichst auch gleich abzuschließen.
Tipp Nr. 1:
Begonnene Arbeiten möglichst direkt abschließen!
Wer an zehn Aufgaben gleichzeitig arbeitet, hat für auch zehn offene „Baustellen“. Deutlich besser ist es, wenn die volle Zeit und Energie auf eine Tätigkeit gerichtet wird. Ist diese Aufgabe abgeschlossen, muss an sie nicht mehr gedacht werden und dementsprechend macht sich auch der Zeigarnik-Effekt nicht mehr bemerkbar.
Tipp Nr. 2:
Bei kleinen Aufgaben das Direkt-Prinzip anwenden!
Vor allem bei kleinen und kleinsten Aufgaben sollte man deshalb das Direkt-Prinzip beherzigen. Gerade diese stören die Konzentration besonders. Abarbeiten – abhaken – Kopf frei bekommen!
Ein begründeter Einwand lautet, dass es in der Praxis vollkommen unmöglich ist, immer alles sofort abzuarbeiten. Wenn wir nochmals das Beispiel mit zehn zu erledigenden Aufgaben aufgreifen: auch wenn man seinen Fokus auf eine einzelne Aufgabe richtet, sind da immer noch neun weitere, die unerledigt sind. Reichlich Munition für den bösen Zeigarnik-Effekt. Eine relativ einfache Lösung ist die schriftliche Planung der anstehenden Aufgaben.
Tipp Nr. 3:
Schriftliche Planung lässt Gedanken verstummen!
Um die Stimme der Erinnerung aus dem Unbewussten verstummen zu lassen, ist es Erfolg versprechend, einen Plan der zu erledigenden Aufgaben zu machen. Eine To-do-Liste ist hierfür der erste Schritt. Allerdings ist es wenig hilfreich, wenn auf der Liste „Monsteraufgaben“ stehen wie zum Beispiel „Karriere machen“ oder „Finnisch lernen“.
Ein Klassiker des Zeitmanagements von David Allen (Getting Things Done – deutsche Ausgabe Wie ich die Dinge geregelt kriege) beschäftigt sich mit einem raffinierten System aus To-do-Listen. Es werden, je nach Bedarf, Listen für verschiedene Lebens- oder Aufgabenbereiche angelegt. Hier finden sich auch langfristige Planungshorizonte.
Für die „Liste der nächsten Schritte“ wird die Sache dann konkret. Hier sind konkrete Handlungen, die zu erledigen sind, vermerkt. Um diese zu benennen, muss allerdings geistige Vorarbeit geleistet werden. Teilschritte und deren zeitliche Abfolge müssen bestimmt und schriftlich fixiert werden.
Mit diesen einfachen planerischen Maßnahmen kann man den Zeigarnik-Effekt am wirkungsvollsten in seine Grenzen weisen. Studien haben das eindeutig belegt. Es gilt lediglich einen grundlegend strukturierten schriftlichen Plan machen – es muss nicht zwingend ein komplexes System wie das von David Allen sein! Allerdings scheint die virtuelle Vorwegnahme der zu erledigenden Aufgabe, die Erinnerungsfunktion aus dem Unbewussten zufriedenzustellen.