Zeit ist relativ. Spätestens wenn Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen aufeinander treffen, wird diese Tatsache besonders deutlich. Jeder Urlauber, der im (nicht-industrialisierten) Ausland schon mal auf einen Bus gewartet hat, kann dies bestätigen. Aber wie ist es möglich, dass die gleiche Zeitspanne für den einen nur ein Moment, für den anderen eine gefühlte Ewigkeit ist? Diese und noch viele weitere Fragen zum Thema Zeit und Lebenstempo beantwortet Robert Levine in seinem Buch „Eine Landkarte der Zeit“.
Inhalt
Ein Buch, das mehr ist als nur eine Landkarte der Zeit
In meinem zweiten Lesetipp möchte ich ein Buch von Robert Levine vorstellen, dessen Erstausgabe bereits 1997 erschienen ist. Der deutsche Titel „Eine Landkarte der Zeit“ greift jedoch zu kurz. Zwar geht es im Kern um die Forschungsarbeiten des Autors, der das Lebenstempo von Menschen in 31 Ländern miteinander verglichen hat. Aber keine Angst! Den Leser erwartet keine trockene Auswertung empirischer Forschung.
Vielmehr ein unterhaltsamer Rundumschlag über das Verhältnis zur Zeit in verschiedenen Kulturen und daraus abgeleitet, welche Faktoren das Lebenstempo bestimmen. Angereichert wird das Ganze mit humorvollen Anekdoten des Autors im typisch US-amerikanischen, populärwissenschaftlichen Stil. Immer verständlich und (für meinen Geschmack) nie langweilig. Was erwartet den Leser konkret?
Teil 1:
Soziale Zeit / Der Herzschlag der Kultur
„Schließlich regiert unser Lebenstempo unsere Erfahrung davon, wie Zeit vergeht. Und wie wir uns durch die Zeit bewegen, bestimmt letztendlich die Art und Weise, in der wir unser Leben leben.“
(S. 25)
Teil eins bietet eine Einführung zum Themenkomplex Mensch-Kultur-Zeit. Es wird auf den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Zeitwahrnehmung eingegangen und eine Vielzahl von Einflussgrößen vorgestellt. Wenn Zeit als kulturelles Konstrukt betrachtet wird, muss die jeweilige Gesellschaft und deren Rahmenbedingungen genau unter die Lupe genommen werden: Wie weit ist die Wirtschaft entwickelt? Wie ist es um Wohlstand und den Grad der Industrialisierung bestellt?
Aber auch die Menschen unterscheiden sich stark darin, was ihre „innere Uhr“ misst. Jeder Mensch hat eine andere Wahrnehmung. Was für den einen anregend ist, bedeutet für den anderen hoffnungslose Überforderung. Teil eins liefert ebenfalls Infos zu der sogenannten Typ-A-Persönlichkeit und zur Eilkrankheit Dabei bleibt Levine immer kritisch. Hohe Geschwindigkeit und eine Portion Stress sind nicht per se schlecht – sie müssen jedoch mit dem Naturell des jeweiligen Menschen (halbwegs) harmonieren.
Schließlich wird in interessanten Exkursen der Siegeszug der Uhren in den Industrienationen dem Leben in der Ereigniszeit gegenübergestellt. Ereigniszeit bedeutet, das der Zeitplan von den Aktivitäten bestimmt wird. Uhren haben hier nicht die Macht, ein enges „Handlungs-Korsett“ vorzugeben.
Teil 2:
Schnell, langsam und die Qualität des Lebens
„Da die Zeit der Eckpfeiler des sozialen Lebens ist, bietet die Untersuchung der Zeitvorstellungen eines Volkes einen wertvollen Zugang zur Psyche einer Kultur, auch unserer eigenen.“
(S. 26)
Im Fokus des zweiten Teils stehen Levines Forschungen. Die Fragen, wie schnell das Lebenstempo einer Kultur ist und wie sich dieser Aspekt auf die Lebensqualität auswirkt, bildet den Kern seiner Untersuchung.
Inwieweit die untersuchten Geschwindigkeits-Indikatoren (Gehgeschwindigkeit, Bedienzeit bei der Post und Genauigkeit öffentlicher Uhren) auf das Gesamttempo der jeweiligen Gesellschaft schließen lassen – nun ja. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Immerhin kam es zu der erwarteten Trennung in „schnelle“ Industrienationen (Europa, USA, Asien) und „langsame“ nichtindustrialisierte Länder.
Teil 3:
Das Tempo verändern
„Wie wir unsere Zeit einteilen und nutzen, definiert am Ende die Qualität und die Beschaffenheit unseres Daseins.“
(S. 291)
Wenn die Wahrnehmung von Zeit vor allem ein kulturell-gesellschaftliches Konstrukt ist, sollte es doch auch Möglichkeiten geben, diese Wahrnehmung bewusst zu steuern. Vor allem der positiv-optimistischen Grundtenor des dritten Teils gibt Hoffnung, dass man Zeitdruck, hohem Lebenstempo und Stress nicht wehrlos ausgeliefert ist.
Besonders das Kennenlernen fremder Kulturen und deren abweichendes Zeitverständnis stellt eine große Chance dar. Man lernt, den eigenen Umgang mit der Zeit zu reflektieren und auch zu relativieren. Mit dem Ergebnis eines weniger verkrampften, reflexartigen Umgang mit der eigenen Zeit. Generell sollte man sich immer die folgenden beiden Fragen stellen, wenn man von seiner Zeit „investieren“ soll:
-
Ist das etwas, was ich unbedingt tun muss?
- Ist das etwas, was ich tun möchte?
Wenn nicht wenigestens eine der beiden Frage mit „ja“ beantwortet werden kann, sollte man auch keine Zeit hineinstecken.
Levine empfiehlt, die Balance zwischen schnellem und langsamen Tempo zu finden; das mittlere Tempo stellt demgemäß eine Art „Königsweg“ dar. Das leuchtet ein: zuviel Zeitdruck resultiert in Stress, zu wenig führt zu Langeweile. Ein Mittelmaß an Zeitdruck führt zudem im Arbeitsleben zu den besten Ergebnissen („Flow-Erfahrung“).
Fazit:
Eine Landkarte der Zeit für die globalisierte Welt
Zeit ist relativ. Diese Erfahrung kann man – jenseits von Albert Einstein und Harald Lesch – immer dann machen, wenn man mit Menschen aus anderen Kulturkreisen in Kontakt kommt. Robert Levine zeigt in „Eine Landkarte der Zeit“, dass es tatsächlich enorme Unterschiede im Lebenstempo zwischen verschiedenen Ländern gibt.
Zugegeben: Levine führt einen Rundumschlag aus, bei dem der rote Faden manchmal auf der Strecke bleibt. Für ein populärwissenschaftliches Buch ist es andererseits notwendig, eine gewisse thematische Breite und Abwechslung zu liefern. Levines Forschung alleine hätte vermutlich viele Leser das Buch lange vor dem Erreichen der letzten Seite beiseite legen lassen.
Durch die umfassend erläuterten Hintergründe der Lebenstempi und Zeitwahrnehmungen, lernt man viel über die Psyche fremder Kulturen. Und dementsprechend auch über das eigene Verhältnis zur Zeit. Ein bereits 20 Jahre altes Buch, das gerade jetzt aktueller denn je ist.
In Zeiten von Globalisierung und anhaltender Migration lohnt der Blick über den Tellerrand des eigenen Zeitverständnisses. „Eine Landkarte der Zeit“ bietet eine echte Fundgrube für einen breiten Einstieg in die Thematik.
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