Seit dem berühmten Höhlengleichnis von Platon wissen wir, dass man für Erkenntnisse und Einsichten das dunkle Höhlendasein verlassen und den Blick zum Licht der Sonne wenden muss. Manchmal kann es aber auch erhellend sein, wenn man sich in die Dunkelheit einer Höhle zurückzieht. Ausgerechnet dort, zwischen feuchtkalten Felsen und in der Gesellschaft einer Spinne, machte der Geologe Michel Siffre 1962 verblüffende Erkenntnisse über zwei ganz unterschiedliche innere Uhren. Und zudem Erfahrungen, die ihn sein ganzes Leben nicht mehr loslassen sollten.
Inhalt
Ein Zeitforscher als Höhlenmensch
Am 16. Juli 1962 unternahm der französische Geologe Michel Siffre einen ungewöhnlichen Selbstversuch. Er verbrachte sage und schreibe 61 Tage allein in der vollkommenen Abgeschiedenheit einer vergletscherten Höhle in den Südalpen. Die brennende Frage, die ihn zu diesem radikalen Experiment motivierte, lautete:
Wie verhält sich die Zeitwahrnehmung,
wenn (fast) nichts geschieht?
Für die Wissenschaft hatte sich schon lange die Frage gestellt, wie die Zeitwahrnehmung des Menschen funktioniert. Klar war, dass Menschen ein Zeitgefühl besitzen. Aber gab es im Gehirn wirklich etwas wie eine „innere Uhr“? Wird z. B. der Schlaf-Wach-Zyklus durch äußere oder innere Taktgeber gesteuert? Durch das gezielte Ausschalten der typischen äußeren Einflüsse wollte man Antworten finden.
Im „Höhlen-Experiment“ sollte somit untersucht werden, wie gut oder schlecht das Zeitempfinden funktioniert, wenn man keinerlei Anhaltspunkte für den Fluss der Zeit hat. Kein Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang; keine vertrauten alltäglichen Routinen, an denen die vergehende Zeit abschätzbar wäre. Und so stieg Siffre über eine Leiter in den kalten, feuchten Abgrund. Wie sich zeigen sollte, würde diese Erfahrung sein ganzes Leben verändern.
Die Situation in der Höhle
Über ein Feldtelefon konnte er Informationen an Kollegen außerhalb der Höhle durchgeben. Dabei ging es nicht darum, sich die Zeit mit Plaudereien zu vertreiben. Ausschließlich seine grundlegenden Aktivitäten – Schlaf- und Wachphasen, Mahlzeiten – wurden dokumentiert. Zudem versuchte Siffre einzuschätzen, wie viele Tage er sich schon unter der Erde befand.
Man könnte die Frage stellen, warum es um alles in der Welt eine kalte, feuchte Höhle sein musste. Eine berechtigte Frage, wenn man bedenkt, dass 1963 auch in Deutschland vergleichbare Experimente von Jürgen Aschoff in einem alten Wehrmachtsbunker durchgeführt wurden. Eine vergleichsweise komfortable Angelegenheit in Anbetracht von Heizung, Stromversorgung und sogar Andechser Klosterbier. Da Siffre Geologe war, erscheint seine Idee immerhin nicht mehr ganz so skurril.
Und so verbringt der 23 Jährige seine Zeit in 130 Meter Tiefe. Ein Zelt ist schnell aufgeschlagen; etwa eine Tonne an Verpflegung und Ausrüstungsgegenstände sind bei ihm. Da er Batteriestrom sparen muss, sitzt er die meiste Zeit regungslos auf einem Klappstuhl. Es herrscht absolute Dunkelheit und Stille, die nur gelegentlich von Tropfgeräuschen unterbrochen wird.
Kein Wunder, dass seine Nerven unter dieser Situation litten und er mit dem einzigen lebendigen Wesen vor Ort zu sprechen begann – einer Spinne. Als er auf die Idee kommt, sie mit seinen Konserven zu füttern, stirbt die Spinne – nun ist er vollkommen alleine.
Wenn die Zeit aus den Fugen gerät
Tatsächliche hatte Siffre in seiner feucht-kalten Höhle schnell jedes Gefühl für Zeit verloren. Seine Angaben, die er am Telefon seinen Kollegen mitteilt, sind nicht mehr als geratene Werte. Seine völlig durcheinander geratene Zeitwahrnehmung lässt ihn glauben, er habe nur ein kurzes Nickerchen gemacht – tatsächlich hatte er aber acht Stunden geschlafen.
Die zeitliche Desorientierung zehrt zunehmend an seinen Nerven. Der zähe Fluss der Zeit, weitestgehend frei von typisch menschlichen Erfahrungen, zermürben ihn zusehends. Kein Wechsel von Tag und Nacht, keine echten Kontakte zu anderen Menschen, keine ablenkenden Aufgaben. Das Experiment hatte ohne Zweifel den Charakter von Isolationshaft in einem feucht-kalten Kerker.
Zwar hatte unser Höhlenmann sehr schnell keine Ahnung mehr davon, wie viel Zeit vergangen war oder welcher Tag gerade ist. Sein Tag-Nacht-Rhythmus war von dieser Orientierungslosigkeit jedoch nicht betroffen. Wie ein gut funktionierendes Uhrwerk schlief Siffre im Schnitt acht Stunden und war etwas über 16 Stunden wach – und zwar ohne dies bewusst zu registrieren.
Sein Gefühl vermittelte ihm in der Höhle permanent, dass die Zeit unglaublich zäh und langsam verginge. Am Ende des Experiments fehlten Siffre jedoch sage und schreibe 25 Tage. Als die Forscher-Kollegen nach 61 Tagen am 14. September 1961 die Leiter in die Höhle hinabließen, dachte Siffre es wäre erst der 20. August! Seine Wahrnehmung und Aufzeichnungen hatten tatsächlich 25 Tage unterschlagen!
Zwei unterschiedliche innere Uhren
Die Auswertung der Daten ergab – außer Mensch-Spinne-Gesprächen – ein verblüffendes Ergebnis: Offensichtlich verfügt der Mensch tatsächlich über zwei innere Uhren.
Die versteckte innere Uhr
Der Tag-Nacht-Rhythmus (circadiane Rhythmus) funktioniert auch ohne die Einflüsse von Licht und Dunkelheit. Dieser innere Takt ist nicht genau synchron zu den 24 Stunden eines Tages. Tatsächlich ist der circadiane Rhythmus etwa eine Stunde länger als ein 24-Stunden-Tag.
Verantwortlich dafür ist ein etwa reiskorngroßer Bereich im Gehirn. In diesem sogenannten suprachiasmatischen Nukleus (SCN) sitzt vermutlich die biologische Uhr, die wichtige Körperfunktionen steuert. Müdigkeit, Hormonspiegel, Herzfrequenz und Stoffwechsel werden von diesem Areal beeinflusst.
Dass sich der SCN in dem Bereich des Gehirns befindet, in dem sich die Sehnerven kreuzen, macht Sinn. Das Tageslicht „eicht“ diese innere Uhr. Deshalb sollten Morgenmuffel möglichst schnell raus ins Tageslicht kommen.
Was wir wahrnehmen: die innere Zeit
In weiteren Studien bestätigte sich immer wieder die erstaunliche Genauigkeit der biologischen, evolutionär gewachsenen Uhr. Allerdings hat die Sache einen Haken: Diese sogenannte Körperzeit mit ihren wichtigen Steuerungsfunktionen ist nicht die Zeit, die wir wahrnehmen.
Die von uns eher ungenau registrierte Zeit wird als innere Zeit bezeichnet. Sie entsteht aus einem komplexen Wechselspiel zwischen unserer Umwelt und gesammelten Erfahrungen. Das erklärt, warum Erwachsene Zeitspannen deutlich besser schätzen können als Kinder. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen, dass Erwachsene durch ihre Lebenserfahrungen immer wieder „Referenzerfahrungen“ gemacht haben.
Man hat schon viele hunderte oder gar tausende Mal bestimmte Alltagssituationen durchlaufen und ein Gefühl für deren Dauer entwickelt. Duschen, Zähneputze, rasieren – immer mit einem Auge auf die Uhr. Die Autofahrten zu bestimmten Standardzielen. All das schult, ganz nebenbei, auch das Zeitgefühl der inneren Zeit. Kinder können auf dieses „Training“ nicht zurückgreifen.
Die Frage aller Fragen:
Kann man die innere Zeit
bewusst beeinflussen?
Wissenschaftler wie Siffre und Aschoff haben den Nachweis erbracht, dass es nicht nur eine innere Uhr gibt. Vielmehr sind es zwei Systeme, die sich in ihrer Genauigkeit und Funktionsweise grundlegend unterscheiden. Zwar haben wir eine sehr genaue innere Uhr, die uns von der Evolution geschenkt wurde.
Dummerweise bekommen wir von diesem Instrument nicht allzu viel mit. Exakt und verlässlich arbeitet der suprachiasmatische Nukleus ohne dass wir ihn als biologischen Chronometer bewusst nutzen können. Minuten und Stunden sind die typischen Einheiten, in denen wir unsere Tage gliedern und organisieren. Leider sind das aber nicht die Einheiten, mit denen unsere biologische Ausstattung arbeitet.
Die von uns tatsächlich wahrgenommene innere Zeit ist dagegen denkbar ungenau, ja launig. Je nach gegebener Situation dehnt oder beschleunigt sie die Zeit. Und oft genau so, wie wir es uns gerade nicht wünschen. Auf dem Behandlungsstuhl des Zahnarztes dehnt sich die Zeit ins Unermessliche. Die Mittagspause oder der Urlaub sind schon wieder vorbei kaum, dass sie begonnen haben.
Aber Moment! Besteht hier nicht die Chance, durch eine bewusste Steuerung der Rahmenbedingungen die Zeit genau so wahrzunehmen, wie es gewünscht ist?
Gezielte Beeinflussung der inneren Zeit
Wie das vorgestellte Höhlenexperiment zeigte, braucht die innere Uhr, die für die innere Zeit verantwortlich ist, Reize von außen. Fehlen solche Reize, treten genau die Wirkungen auf, unter denen Michel Siffre zu leiden hatte:
- Lähmend langsam vergehende Zeit, die an den Nerven zehrt.
- Im Rückblick dagegen verlorene Zeit. Siffre fragte sich vermutlich nach seinem Experiment: „Wo ist nur die Zeit geblieben?“
Wie man sieht, ist beides nicht besonders attraktiv. Erst Langeweile, die nicht enden will und dann auch noch zu allem Überfluss verlorene Zeit, an die man sich nicht einmal mehr erinnern kann. Da normalerweise niemand für Monate in einer Höhle sitzt, übertragen wir das Ganze in eine etwas alltagstauglichere These:
- Routine, die alle Lebensbereiche erfasst, kann zu Monotonie und Langeweile entarten. Als Resultat kommt es zu ähnlichen Auswirkungen auf die Zeitwahrnehmung wie im Höhlenexperiment.
In gewisser Weise war das Höhlen-Experiment eine Zuspitzung von dem, was nahezu alle Menschen im Laufe ihres Lebens wahrnehmen: Die Zeit scheint mit den Jahren immer schneller zu vergehen. Zu großen Teilen liegt das daran, dass kaum noch neue Erfahrungen gemacht werden.
Den ersten Kuss gibt es nur ein Mal. Der erste Flug – selbst nur eine kurze Reise innerhalb Europas – ist ein Abenteuer. Was danach kommt, ist weit weniger emotional – selbst wenn die Reise dann auf einen anderen Kontinent führt.
Erfahrung und Routine sind schön und gut. Verharrt man jedoch langfristig in seiner ganz persönlichen kleinen „Alltags-Höhle“, können sich ähnlich negative Effekte wie bei Michel Siffre einstellen. Am Ende unterhält man sich vielleicht sogar lieber mit einer Spinne (alternativ: Katze oder Hund) als mit dem eigenen Partner 😉
Möglichkeiten und Grenzen
Im Umkehrschluss ist klar, was zu tun ist. Routinen und Erfahrungen sind unverzichtbare Helfer für ein erfolgreiches und somit befriedigendes Leben. Ohne grundlegende Routinen besteht immer eine Tendenz zum Chaos. Das gilt für den Job und genauso für das Privatleben.
Wer morgens in einem komatösen Zustand durch die Wohnung schlurft, profitiert ungemein von festen Abläufen. Ein Autopilot ist eine feine Sache, weil wir uns so besser auf das Wesentliche konzentrieren können.
Mangelhafte Routine sorgt dafür, dass an sich banale Aktivitäten Energie und Zeit rauben. Für viele Dinge, die sich regelmäßig wiederholen, sind sie Gold wert. Eine Morgenroutine hilft, einen unstressigen Einstieg in den Tag zu finden. Genauso wertvoll sind Rituale am Abend, die es leichter machen abzuschalten und schlafen zu können.
Checklisten für Standard-Ereignisse leisten Vergleichbares. Ein Beispiel: Wer in Urlaub fährt, ist sicher dankbar dafür, wenn eine Liste mit den wichtigsten Vorbereitungen und mitzunehmenden Utensilien vorliegt. Warum jedes Mal von vorn anfangen und grübeln, was man alles braucht?
Wenn Routinen und Erfahrungen jedoch krakengleich das ganze Leben umschlingen, sollte schleunigst gegengesteuert werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten, um neue Erfahrungen zu machen:
- Ein neuer Job bzw. neue berufliche Herausforderungen suchen.
- Ein neuer Lebensmittelpunkt – vielleicht sogar in einem anderen Land.
- Lernen! Ganz nach persönlichem Interesse: Sprachen, eine neue Sportart, neue Hobbys. Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt!
- Kontakt zu neuen Menschen suchen erweitert den Horizont für andere Sichtweisen und Lebensentwürfe.
- Auch Standardroutinen infrage stellen und etwas Neues probieren: Morgens Sport machen, einen anderen Weg zur Arbeit nehmen, einen spontanen Kurztrip ohne vorher festgelegtes Ziel machen usw.
Neuer Input in allen Lebenslagen führt dazu, dass man ein gutes Leben hat. Ich würde sogar so weit gehen, dass man nur auf diese Weise überhaupt ein Leben hatte. Nur durch Erleben wird aus purer Existenz ein erfülltes Leben!
Input-Overkill
Leider hat die Medaille aber auch eine Kehrseite. Gerade ein sehr abwechslungsreiches Leben sorgt dafür, dass der jeweilige Moment schneller zu vergehen scheint. Zur Erinnerung: Passiert wenig, scheint die Zeit langsamer zu vergehen.
Umgekehrt beschleunigt sich die innere Zeit, wenn wir in „Action“ sind. Wird die ständige Suche nach neuen Erfahrungen und Erlebnissen zum Zwang, entsteht Stress. Reisegruppen, die einen ganzen Kontinent in nur zehn Tagen bereisen, nehmen die Zeit als reißenden Strom wahr.
Der einzige Ansatz, der Erfolg verspricht, ist meiner Meinung nach der bewusst gesteuerte Wechsel zwischen Phasen, die zum einen aus neuen Erfahrungen und zum anderen aus vertraut-entspannten Ritualen bestehen. Eine Klassik-CD, die man schon unzählige mal gehört hat oder Entspannungsübungen resultieren in einer anderen Zeitwahrnehmung.
Ein bewusster Wechsel aus Neuem und Vertrautem ebenso wie Phasen der Spannung und Entspannung erscheinen mir das Beste aus beiden Zeit-Welten zu vereinen. Aber die Faktoren, die unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen, gehen weit über die hier angesprochenen Punkte hinaus. Sie liefern somit reichlich Material für weitere Beiträge.
Zurück in die Höhle
Was wurde aus unserem Höhlenmann Michel Siffre? Man könnte annehmen, dass er nach seinem physisch wie psychisch extrem belastenden Experiment einen weiten Bogen um alles gemacht hätte, was auch nur ansatzweise wie eine Höhle aussah. Dem war aber nicht so. Die Faszination für die extreme Erfahrung seines Höhlen-Experiments führte dazu, dass er noch mehrmals ähnliches wagte.
Bereits 1972 verweilte er für sage und schreibe 205 Tage in einer Höhle im texanischen Del Rio. Auftraggeber war die NASA, die herausbekommen wollte, ob sich der 25-Stunden-Rhythmus des Menschen langfristig verändert; d. h. sich auf längere Spannen ausdehnt.
Dieses Experiment setzte Siffre psychisch extrem zu. Während des Experiments war er kurz davor, abzubrechen. Seine persönlichen Forschungen kosteten ihn mehr Geld, als er von der NASA erhielt. Mit über 50.000 € Schulden war das ganze für ihn auch ein wirtschaftlicher Super-GAU. Noch Monate nach dem Ende des Experiments litt er unter gesundheitlichen und psychischen Nachwirkungen.
Neben den wertvollen Erkenntnissen zu den beiden inneren Uhren kommt man zu einer weiteren, fast schon banal erscheinenden Erkenntnis. Menschen sind soziale Wesen. Isolation und Monotonie sind dagegen zutiefst unmenschlich. Man sollte das nie vergessen – auch wenn man sich nicht viele Meter unter der Erde in einer Höhle befindet.