Priorisieren ist eine zentrale Fähigkeit, wenn es um die optimale Nutzung unserer Zeit geht. Aber nur wer sich darüber im klaren ist, was er wirklich will, kann sinnvoll Prioritäten setzen. „Mach dir deine Werte bewusst!“ ist deshalb ein beliebtes Credo der einschlägigen Ratgeberliteratur im Bereich des Zeitmanagements. Auf den ersten Blick ein kluger Rat, schließlich versteht man unter dem Begriff „Werte“ als erstrebenswert geltende Eigenschaften von Dingen, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften. Damit sie effektiv die Funktion eines inneren Entscheidungs-Kompasses übernehmen können, sind jedoch eine Reihe von Problemen zu lösen. Der Beitrag zeigt deshalb, wie man Werte in konkrete und möglichst widerspruchsfreie Entscheidungen überträgt.
Inhalt
Werte:
Grundlage unseres Handelns?
Priorisieren bedeutet nichts anderes, als Handlungen in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Es ist naheliegend, Dinge die wichtig (und oft auch dringend) sind, vorrangig zu behandeln. Mit anderen Worten: Sie landen ganz oben auf der Agenda.
Woran kann man aber möglichst schnell und eindeutig erkennen, was überhaupt wichtig ist? Eine beliebte Empfehlung lautet, man solle sich zuerst auf seine Werte besinnen. Vor allem wenn es darum geht, grundlegende Entscheidungen zu treffen.
Werte:
Hilfe bei grundlegenden Entscheidungen
- Wie gestalte ich meine berufliche Zukunft? (Fokus auf Karriere oder Familie?)
- Wo soll mein Lebensmittelpunkt sein? (Wohnsitz in der Stadt oder auf dem Land?)
- Wie gestalte ich meine Freizeit? (Base-Jumping oder wandern im Harz?)
Was Werte leisten sollen
Diese Liste ließe sich natürlich beliebig lange fortsetzen. Das grundlegende Problem dürfte aber bereits klar sein: Entscheidungen sind zu treffen – wobei die Entscheidung für eine Option in vielen Fällen auf Kosten einer anderen geht. Wir haben einfach nicht genug Zeit, um alles auszuprobieren oder umzusetzen. Wäre es nicht praktisch, mit einem „Best of“ der persönlichen Wertvorstellungen mehr Klarheit zu erhalten?
Werte werden generell als positiv und erstrebenswert wahrgenommen. Sie zeigen, was uns „wertvoll“ ist. Sie sollen auch dabei helfen, jene Ziele zu verfolgen, die am besten zu unserem Wesen passen. Schließlich wirkt es sich auf Motivation und Zufriedenheit positiv aus, wenn man seine Werte lebt.
Jemand, der sich als leistungsorientiert und abenteuerlustig beschreibt, wird sich vermutlich anders verhalten, als ein Mensch der Bescheidenheit und Besonnenheit auf den vorderen Plätzen seine Werte-Hierarchie positioniert. Zusammengefasst sollen Werte Orientierung und Sinn erzeugen sowie das Finden persönlicher Ziele erleichtern. Aber ist es wirklich so einfach?
Werte:
Orientierung oder Verwirrung?
Kann man – nachdem man sich seine Werte bewusst gemacht hat – Ziele und Prioritäten einfach so ableiten? Schaut man sich das Konzept „Werte“ genauer an, tauchen Probleme auf: Weder sind Werte in ihrem Verhältnis zueinander immer konfliktfrei, noch lassen sie sich ohne Weiteres in sinnvolle Handlungsabfolgen (= klare Prioritäten) übersetzen. Schauen wir uns die problematischen Aspekte von Werten einmal genauer an.
Werte sind abstrakte Konstrukte der Gesellschaft
Werte – im Sinne von Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen – werden normalerweise als gut und erstrebenswert empfunden. Sie sind aber auch immer gesellschaftliche Konstrukte und stellen Erwartungshaltungen der anderen an uns dar. Der Chef erwartet von seinen Mitarbeitern Pünktlichkeit, Fleiß und Zuverlässigkeit. In den meisten Fällen ist dem Arbeitnehmer halbwegs klar, was das konkret für ihn bedeutet.
Begriffe wie Teamfähigkeit und Professionalität können bereits als „interpretationsbedürftig“ gelten. Und im privaten Bereich können die praktischen Bedeutungen von Werten wie Empathie, Freiheit und Abenteuer in ernsthafte Grundsatzdiskussionen ausarten. So schön die Begriffe klingen und wie gerne sie auch immer wieder bemüht werden – sie sind äußerst vage beziehungsweise subjektiv und daher noch weit von jeglicher Handlungsanweisung entfernt.
Werte variieren in verschiedenen Lebensbereichen
Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichen Werten. Ihre besonderen Qualitäten entwickeln sie oft erst in einem bestimmten Kontext. Das wird deutlich, wenn man die Lebensbereiche Familie, Beruf und Hobby einander gegenüberstellt:
- Familie: Liebe, Vertrauen, Empathie, Fürsorglichkeit, Harmonie, Humor, Zuneigung
- Beruf: Beharrlichkeit, Disziplin, Fleiß, Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Teamgeist, Professionalität
- Hobby/Freizeit: Abenteuer, Aktivität, Freiheit, Spaß, Gesundheit (durch Sport und Erholung)
Alle genannten Werte haben im jeweiligen Bereich ihre Berechtigung. Je nachdem, welche Rolle man gerade einnimmt (Partner, Elternteil, Angestellter usw.), können sie gänzlich unterschiedlich ausfallen. Aber da die einzelnen Lebensbereiche nicht zu hundert Prozent voneinander abgegrenzt werden können, besteht ein beträchtliches Konfliktpotenzial.
Konfliktpotenzial zwischen Werten
Betrachten wir zwei Beispiele:
- Konflikt: Familie vs. Beruf. Eine 35-jährige Frau ist erfolgreich im mittleren Management einer Werbeagentur tätig. Ihr wird eine neue Stelle angeboten, die deutlich besser bezahlt wird. Allerdings müsste sie dafür häufig längere Dienstreisen in Kauf nehmen. Auf der anderen Seite stehen die Erwartungen ihres Ehemanns und des 12-jährigen Sohns: beide wünschen sich mehr Zeit mit der Partnerin bzw. Mutter.
- Konflikt: Hobby vs. Familie und Beruf. Ein 30-Jähriger fährt in seiner Freizeit begeistert Motorradrennen. Seine Partnerin und sein Chef sehen dies kritisch – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Für den geplanten Familienzuwachs soll unser Beispiel-Rennfahrer sein – nicht ungefährliches Hobby – genauso aufgeben, wie für die in Aussicht gestellte Beförderung.
Es stellt sich nun die Frage, wie in den beiden Situationen – durch das Bewusstmachen von Werten – akzeptable Entscheidungen herbeigeführt werden könnten. Wie soll man konkret vorgehen?
Die eigenen Werte bewusst machen
Um sich die eigenen Werte bewusst zu machen, sollte man sich fragen, was einem im Leben wirklich wichtig ist:
Was ist für mich wirklich wichtig („wertvoll“)?
Hier kann man allerdings nicht erwarten, dass einem die zugehörigen Wertvorstellungen direkt in den Sinn kommen. Sie dürften für die meisten Menschen zu abstrakt sein – besonders, wenn sie sich man zum ersten Mal bewusst machen will. Eine bessere Strategie ist, sich Momente ins Gedächtnis zu rufen, in denen man Glück oder wenigstens Zufriedenheit verspürt hat.
Auch Träume (die man vielleicht schon seit der Kindheit hat) können wertvolle Anhaltspunkte darstellen, was für uns besondere Bedeutung hat. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, mittels bereits vorgefertigter Sammlungen typischer Wertvorstellungen, sich inspirieren zu lassen. Es wird dann leichter, Ereignisse, Wünsche und Träume einem Wert zuzuordnen.
So könnte eine Liste wie diese entstehen:
- Harmonie
- Glück
- Sicherheit
- Selbstverwirklichung
- Wohlstand
- Gesundheit
- Erfolg
- Spaß
- Freiheit
Eine mögliche Vorgehensweise wäre nun, die gesammelten Werte zu priorisieren. Für den Fall, dass man sich in der Rangfolge unsicher ist, kann man sich Szenarien vorstellen und in diesen Werte „gegeneinander antreten“ lassen. Das Ergebnis wäre eine Werte-Hierarchie:
- Glück
- Erfolg
- Selbstverwirklichung
- Wohlstand
- Freiheit
- Gesundheit
- Spaß
- Harmonie
- Sicherheit
Nun drängt sich die Frage auf, was die ganze Selbstanalyse und Wertesammelei leisten kann. Ist es mit den bisherigen Vorarbeiten leichter geworden, die richtigen Entscheidungen zu treffen bzw. Prioritäten zu setzen?
Möglichkeiten und Grenzen
des Wertekonzeptes
Nehmen wir an, die oben aufgeführte Liste wurde von der Frau aus dem Werbeagentur-Beispiel erstellt. Sie hat sich natürlich ausführlich Gedanken darüber gemacht, was die einzelnen Werte für sie konkret bedeuten. Zu jedem Punkt der Liste kann sie sich entsprechende Situationen und Emotionen bewusst machen. Es besteht eine gute Chance, dass sie klare Schlussfolgerungen ziehen kann:
- Ich liebe meine Familie, aber Glück ist für mich mehr als ausschließlich in der Rolle der Partnerin, Mutter und Hausfrau aufzugehen.
- Wenn ich mich selbst verleugne, um die (egoistischen) Erwartungen meines Partners und Sohns zu erfüllen, werden wir am Ende alle unglücklich sein.
- Erfolg bedeutet für mich in erster Linie die Leistungen, die ich im Zusammenhang mit meiner beruflichen Tätigkeit erbracht habe.
- Meine Arbeit bedeutet für mich Selbstverwirklichung und auch Freiheit.
- Wohlstand bedeutet für mich, auch eigenes Geld zu verdienen. Er ist für mich wichtig, da er mir ein höheres Maß an Freiheit und Sicherheit gewährleistet.
Und so weiter. Je mehr Situationen und Emotionen man zu den einzelnen Werten findet, desto klarer wird die eigene Position. Entsprechend leichter fällt die Bewertung, was die „richtige“ Entscheidung ist.
In der Beispiel-Variante wird sich die Frau vermutlich für die nächste Stufe auf der Karriereleiter entscheiden. Spannungen, Diskussionen und Kompromisse werden nicht zu vermeiden sein, was vollkommen in Ordnung ist. Schließlich wurde eine bewusste Entscheidung getroffen. Werte bewusst gemacht – Entscheidungen abgeleitet – Mission erfüllt!
Um es nochmals zu betonen: Werte können nicht verhindern, dass Entscheidungen zu Konflikten mit unserem Umfeld führen. Familie, Freunde und Kollegen werden unsere Entscheidungen oft kritisieren und wenig begeistert sein. Auf Basis der eigenen Werte gefällte Entscheidungen können aber dafür sorgen, dass die Konflikte in uns selbst minimiert werden. Einfach weil die so gefällten Entscheidungen am besten zu unserer individuellen Persönlichkeit passen.
Aber was ist mit „Entweder-oder-Situationen“?
Für das zweite Beispiel stehen die Chancen auf eine Entscheidungsfindung mit begrenzten Kolateralschäden weniger gut. Ich möchte diesen Fall als eine „Entweder-oder-Situation“ bezeichnen. Wenn im ersten Beispiel noch ein gewisses Kompromisspotenzial (geplante gemeinsame Zeiten für die Familie, Entlastung der Frau durch ihren Partner) erkennbar war, ist dies bei dem fiktiven Hobby-Rennfahrer nicht vorhanden. Auch macht es in so einer Situation wenig Sinn, die unterschiedlichste Werte in langen Listen zu sammeln und dann mittels „Werte-Priorisierung“ Ordnung ins Chaos zu bringen.
Was diese Entscheidung einfacher und schwieriger zugleich macht, ist der „Entweder-oder-Faktor“: Die Entscheidung für eine Option bedeutet zugleich das Aus für eine (oder mehrere) andere Möglichkeit. Die Frage „Was ist für mich wirklich wichtig?“ gewinnt hier eine ganz besondere Qualität. Man muss sich in solchen Situationen damit anfreunden, dass es unter Umständen keine Entscheidung gibt, die nicht in eine Krise führt.
Egal ob es sich um Motorradrennen, Base-Jumping oder Free Solo Bergsteigen handelt – es geht hier um mehr als „nur“ Hobbys. Vielmehr sind es Eckpfeiler der eigenen Identität, für die Begriffe wie Leidenschaft, Hingabe, Passion und Faszination nicht ungewöhnlich sind.
Bei allen Menschen, die für eine Tätigkeit wirklich brennen, stellt sich die Frage nach Kompromissen oder alternativen Lebensentwürfen überhaupt nicht. Sie sind – im wahrsten Sinne des Wortes – kompromisslos. Für einen Kletterer wie Alex Honnold zum Beispiel ist vollkommen klar, dass viele Menschen, die ihm nahe stehen (und nicht Free Solo klettern) es nicht gut finden, welchen Gefahren er sich aussetzt. Für ihn stellt sich die Frage: „Klettern – ja oder nein?“ trotzdem nicht.
Für alle, die in ihrem Metier nicht zur Weltelite gehören: Zugeständnisse und Kompromisse sind nie ganz zu vermeiden. Allerdings sollte immer bedacht werden, dass niemals die Grenze zur Selbstverleugnung (nämlich der eigenen Werte) überschritten werden darf. Früher oder später wird sonst der Preis dafür zu zahlen sein.
Fazit:
Begrenzter praktischer Nutzen
Für alle, die mehr oder weniger überraschend in einer Situation gelandet sind, die eine wirklich gute Entscheidung verlangt: Werte können einen hilfreichen Beitrag leisten. Pauschal ist das aber nicht der Fall. Um von dem eigenen individuellen Wertesystem wirklich profitieren zu können, muss dieses auch entsprechend entwickelt sein. Es braucht ein nicht unerhebliches Maß an Lebenserfahrung und Selbstreflexion um ein stimmiges Wertesystem aufzubauen. Auf den Punkt gebracht: es braucht Zeit und Anstrengung.
Für viele Menschen wird es dagegen so sein, dass sie nur sehr vage Vorstellungen davon haben, welche Werte ihnen wichtig sind oder was unter diesen genau zu verstehen ist. Aber nur wer sehr genaue Vorstellungen hiervon hat, kann die Widersprüchlichkeit zwischen konkurrierenden Werten meistern.
Wer eine gefestigte Persönlichkeit besitzt und zudem in hohem Maße selbstreflektiert ist, hat deutlich bessere Voraussetzungen, um aus dem Werte-Ansatz Nutzen ziehen zu können. Für alle anderen dürfte es erst einmal klüger sein, von Wünschen und Zielen auszugehen, an denen – nach eingehender Prüfung ob sie wirklich mit allen Konsequenzen gewollt sind – die Handlungen ausgerichtet werden. Parallel dazu kann man sich schrittweise seiner Werte bewusster werden. Mit der Zeit lassen sich dann immer besser Entscheidungen aus dem persönlichen Wertesystem ableiten.