Warten kann eine echte Herausforderung sein. Nicht nur an der Supermarktkasse oder im Stau. Richtig gemein wird die Sache, wenn warten mit dem Aufschieben von Verlockungen verbunden ist. Man hat sich vorgenommen, erst wieder Süßigkeiten zu essen, wenn die Waage fünf Kilo weniger anzeigt. Bevor nicht zwei Stunden für die anstehende Prüfung gelernt wurden, bleibt Netflix tabu. Dennoch scheitert man immer aufs Neue – die kurzfristigen Versuchungen triumphieren über die langfristigen Vernunft-Ziele. Warum das so ist und was „zeitliche Kurzsichtigkeit“ damit zu tun hat? Hier gibt es die Antworten!
Inhalt
Herausforderung Bedürfnisaufschub
„Dumm ist der, der Dummes tut.“
Tom Hanks in Forrest Gump
Im Allgemeinen haben wir eine Vorstellung davon, welches Verhalten langfristig den größten Nutzen bringt. Finger weg von den Drogen, beim Autofahren den Schulterblick nicht vergessen und täglich einen Apfel essen. Geld für schlechte Zeiten zurücklegen, regelmäßig Sport machen, mal wieder ein gutes Buch lesen – alles bekannt und schon tausendmal gehört.
Wenn es so einfach wäre, gäbe es vermutlich keine Fast-Food-Ketten, Tiefkühlpizzen und Kleidung in Übergrößen. Peter Zwegat wäre auf der Suche nach einem neuen Job und die Schufa längst aufgelöst. Aber zurück in die Realität.
Oft scheitern wir in Entscheidungssituationen,
bei denen leicht zwischen richtig und falsch
zu unterscheiden wäre.
Anders formuliert: Die schnelle Bedürfnisbefriedigung siegt viel zu oft über die langfristig-vernünftigen Belohnungen wie Gesundheit oder gesicherte Altersversorgung. Auch bei übertriebenem Aufschieben, der Prokrastination, drängt sich das Jetzt, getarnt als angenehmes Gefühl, in den Vordergrund und verhindert wichtiges und richtiges Handeln. Was läuft hier schief und was hat das alles mit der Wahrnehmung von Zeit zu tun?
Marshmallows als Erfolgsindikatoren
Seit dem legendären Marshmallow-Experiment von Walter Mischel wissen wir, dass es von Vorteil sein kann, Süßkram nicht gleich herunterzuschlingen. Zur Erinnerung: vier- bis fünfjährigen Kindern wurde ein Marshmallow angeboten. Wenn sie es allerdings schaffen würden, diesen nicht gleich zu essen, bekommen sie noch einen Zweiten zusätzlich.
Natürlich war bei vielen die Versuchung zu groß – haps! weg war die kleine Zuckerbombe. Für die Disziplinierteren gab es, wie schon gesagt, einen Nachschlag. Und für die Wissenschaftler interessante Erkenntnisse.
Die geduldigen „Warter“ waren bei der 15 Jahre später durchgeführten zweiten Versuchsreihe (ein Wissenstest der inzwischen jungen Erwachsenen sowie noch eine Befragung der Eltern hinsichtlich schulischer Leistungen und sozialer Kompetenzen) deutlich erfolgreicher als die „Sofort-Esser“! Die Fähigkeit, warten zu können, zahlte sich offensichtlich aus.
Erwachsenen Marshmallows
Man könnte nun annehmen, dass der Sachverhalt bei Erwachsenen anders ausschaut. Kinder haben wegen ihrer geringen Lebenserfahrung weder Willenskraft noch zeitliche Weitsicht entwickeln können, um einer gemeinen Marshmallow-Herausforderung längere Zeit zu widerstehen.
Tatsächlich haben Kinder und Jugendliche eine andere Zeitwahrnehmung als Erwachsene. Fünf Minuten still sitzen oder zehn Minuten auf eine Süßigkeit warten, sind für sie enorme Herausforderungen. Deshalb die häufig gestellte Frage: „Wie lange noch?“
Erwachsene warten auch nicht gerne
Allerdings sind auch Erwachsene nicht automatisch vernünftig. Versuche zeigten, dass sie ebenfalls nicht gerne auf Belohnungen warten. Was dann darauf hinausläuft, dass eine suboptimale, aber schnell verfügbare, bequeme Option bevorzugt wird.
So zeigte sich im Experiment, dass es durchaus Menschen gibt, die lieber heute 45 Euro als erst in einer Woche 50 Euro annehmen. Nicht gerade vernünftig in Anbetracht der aktuellen Zinsen. Offensichtlich führt zeitliche Distanz zu einer Abwertung der – objektiv betrachtet – höherwertigen Wahlmöglichkeit.
Für die Erwachsenen wie die Kinder gab es ein zentrales Wesensmerkmal, das ihre Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub bestimmte: entweder einen erweiterten Zeithorizont oder einen stärkeren Gegenwartsbezug.
Gefangen im Hier und Jetzt:
Zeitliche Kurzsichtigkeit
Jeder, der einen starken Gegenwartsbezug hat, tendiert dazu, der schnellen Bedürfnisbefriedigung den Vorzug zu geben. Man lebt im Hier und Jetzt; dementsprechend sollen auch die Wünsche und Begierden möglichst schnell bedient werden.
In stark ausgeprägten Formen drückt sich der Gegenwartsbezug in deutlich erhöhter Risikobereitschaft aus: Schnelles Autofahren, Drogenkonsum und ungeschützter Sex sollen hier als Beispiele genügen.
Mit dieser Einstellung sind 45 Euro, die heute ausgezahlt werden, besser als 50 Euro in einer Woche. Die in 15 Minuten fertige TK-Pizza erscheint attraktiver, als ein gesundes, frisch zubereitetes Essen in einer Stunde.
Natürlich ist es keine Tragödie, hin und wieder – sei es aus Bequemlichkeit oder wegen knapper Zeit – Fast Food oder Tiefkühlpizzen zu schnabulieren. Wenn allerdings ein extrem verengter Zeithorizont vorliegt, sind wir in der Kategorie von Suchterkrankungen angekommen.
Wenn der Zeithorizont auf die nächsten Stunden schrumpft
Für einen Junkie würde sich niemals die Frage stellen, ob er heute 500 Euro oder in einem Jahr 5000 Euro bekommen möchte. Da seine Planung in erste Linie auf die zeitnahe Beschaffung der Droge ausgerichtet ist, wird er immer sofort das Geld nehmen.
Aber auch in weniger extremer Ausprägung ist die Dominanz des Jetzt ein Sorgenbringer: Spontane Onlinekäufe und Entscheidungen, die langfristig negative Wirkungen haben, sind weit verbreitet. Genau das versteht man unter zeitlicher Kurzsichtigkeit!
Und das, obwohl sich diese Personen in der Regel nicht in einem desolaten Zustand wie Drogensüchtige befinden. Trotzdem treffen sie unlogische Entscheidungen. Betrachtet man die Art und Weise, wie Menschen Zeit wahrnehmen, macht aber auch dieses Verhalten Sinn.
Die emotionale Seite der Zeitwahrnehmung
Die Fähigkeiten des Menschen, Zeit halbwegs genau wahrzunehmen, sind begrenzt. Aus evolutionärer Sicht war so eine Fähigkeit nicht notwendig. Deshalb beschränkt sich unsere innere Uhr (genau genommen sind es zwei innere Uhren) auf eine ziemlich ungenaue subjektive Zeitwahrnehmung, die von vielen äußeren Faktoren beeinflusst wird. Zusätzlich gibt es einen inneren Taktgeber, der nahezu synchron zu den 24 Stunden des Tages läuft.
Von dieser biologischen inneren Uhr, dem circadianen Rhythmus, bekommen wir nicht allzu viel mit. Natürlich wird man gegen Abend müde, schläft dann im Schnitt sechs bis acht Stunden und startet dann – hoffentlich fit und ausgeruht – in einen neuen Tag. Für genaue Zeitmessungen kann er nicht verwendet werden. Trotzdem hat dieser Rhythmus nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Bewertung der Zukunft und des Handelns: Er trennt das Heute vom Morgen.
Das Heute ist emotional stärker gewichtet
Ereignisse, die sich am heutigen Tag abspielen, werden unbewusst stärker gewichtet, als was morgen oder noch später auf dem Programm steht. Natürlich ist das zweckmäßig, schließlich kann man nur in der unmittelbaren Gegenwart durch konkretes Handeln etwas bewegen.
Aber neben den vielen sinnvollen Handlungen, die mit den (hoffentlich ebenfalls sinnvollen) mittel- und langfristigen Zielen konform gehen, werden auch die unzähligen kleinen Verlockungen immer attraktiver. Und diese sabotieren oft die langfristigen, wohldurchdachten Pläne.
Man könnte sagen, dass langfristig kühl-berechnend geplante Ziele jeden Tag aufs Neue gegen emotional aufgeladene Bedürfnisse in den Ring steigen. Nicht selten ein ungleicher Kampf, der am Ende von Netflix und der TK-Pizza gewonnen wird.
Zeitliche Kurzsichtigkeit: Jeder hat sie!
Alle Menschen haben eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Gegenwartsorientierung d. h. zeitliche Kurzsichtigkeit. Jeder bewertet Ereignisse, die sich in der Zukunft ereignen, anders als unmittelbar anstehende Dinge. Ein Beispiel gefällig?
Jeder muss irgendwann sterben. Diese Tatsache ist uns allen ab einem gewissen Alter bewusst. Ob dieser finale Moment nun allerdings in den nächsten Stunden (Todeskandidat), Tagen (Krebspatient) oder erst in vielen Jahren (zum Glück die meisten von uns) eintritt, macht in der Bewertung einen enormen Unterschied aus. Die Bandbreite reicht von leichtem Unbehagen (abstraktes Ereignis in weiter Ferne) bis hin zu tief sitzender, alles durchdringender Todesangst.
Ich habe mich bewusst für ein extremes Beispiel entschieden. Ganz besonders der unabwendbare Tod ist ein hochemotionales Thema. Und immer, wenn Emotionen im Spiel sind, neigen Menschen dazu Vernunft und Plausibilität an der Garderobe abzugeben.
Aber auch bei weniger existenziellen Situationen geschieht genau das: Ist ein Ereignis weiter entfernt, wird es anders bewertet. Vor der Firmenweihnachtsfeier nimmt man sich vor, diesmal weniger oder gar keinen Alkohol zu trinken. Diesmal kein Getuschel und peinliche Beweisfotos am Tag danach.
Wochen und Tage vorher ist man sich noch zu hundert Prozent sicher, diesmal nicht in einen komatösen Punsch-Rausch zu verfallen. Ist der Abend dann allerdings da, sieht die Situation gänzlich anders aus. Ramazotti ist aber auch ein Teufelszeug!
Der Weg zur Hölle ist nun mal mit guten Vorsätzen gepflastert – und zeitlicher Kurzsichtigkeit, die das Hier und Jetzt aufwertet und den peinlichen „Tag danach“ ausblendet.
Die Gegenwart in
den Griff bekommen
Es hat sich gezeigt, dass Abwarten im richtigen Moment große Vorteile mit sich bringen kann. Vor allem wenn es um die stark emotional aufgeladenen täglichen Versuchungen geht. Entscheidungen sind immer eine emotional geprägte Angelegenheit; niemand handelt vollkommen rational wie ein Mister Spock.
Nach den von mir geschilderten „Nebeneffekten“ einer zu starken Gegenwartsfixierung stellt sich nun die Frage, wie besseres Handeln aussehen könnte. Man könnte versuchen, alles was man in der Gegenwart tut, mit den langfristigen Zielen abzugleichen.
Lange To-do-Listen und Zeitmanagementsysteme wie das legendäre „Getting Things Done“ von David Allen fallen mir hierzu spontan ein. Aber mit solchen Gegenmaßnahmen fällt man nur von einem Extrem ins andere. Vermutlich werden die meisten Menschen überhaupt nicht dazu in der Lage sein, von einem ausgeprägten Gegenwartsbezug, der sich in ihrem impulsiven und deshalb oft unvernünftigen Handeln ausdrückt, auf den umsichtigen Langzeitmodus umzuschalten. Das Ergebnis ist Frustration – und die hat noch bei keinem zu positiven Veränderungen geführt.
Jeder sollte sich sein Naturell bewusst machen und weitestgehend akzeptieren. Zudem ist es hilfreich, wenn man die Mechanismen, die hinter dem eigenen Handeln und Verhalten stehen in Grundzügen durchschaut hat. Wer sich selbst besser versteht, hat einen wichtigen Schritt in Richtung von mehr Selbstdisziplin oder wenigstens Akzeptanz getan.
Zeitliche Kurzsichtigkeit bedeutet Handlungsbedarf!
Echter Handlungsbedarf besteht meiner Meinung nach vor allem dann, wenn die Dominanz des Hier und Jetzt überhand nimmt. Zeitliche Blindheit auf dem Niveau eines Maulwurfs wird zweifellos in Unfreiheit resultieren. Alle langfristigen Ziele werden dann mit schöner Regelmäßigkeit von einem selbst sabotiert. Wer sich derart massiv in den Fesseln des Moments verfangen hat, sollte natürlich gegensteuern.
Je nachdem wie stark diese Fesseln sind, kann es durchaus notwendig werden, professionelle Hilfe in Form einer Therapie anzunehmen. Wer unter einer Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung leidet, hat z. B. generell Probleme damit, kurze Zeitspannen einzuschätzen. Auch weisen diese Menschen erhöhte Impulsivität auf. Zeitliche Kurzsichtigkeit wird so begünstigt.
Vernünftige Selbstkontrolle in Kombination mit hedonistischem Genuss im Moment sind auf jeden Fall einer Fixierung auf die langfristig-vernünftigen Ziele, den Terminkalender und To-do-Listen vorzuziehen. Und so schlimm sind peinliche Auftritte auf Weihnachtsfeiern schließlich auch nicht.