Wahlmöglichkeiten werden meist als positiv wahrgenommen. Je mehr davon, desto besser. Fehlende Alternativen hingegen gelten als Einschränkung und Mangel an Lebensqualität. Aber ist das wirklich so? Der Beitrag setzt sich kritisch mit der Gleichung „mehr Optionen = mehr Lebensqualität“ auseinander. Schließlich hat derjenige, der die Wahl hat, auch die Qual. Die Unmengen auf uns einstürmende Meinungen und Positionen schwächen zudem unsere Vorstellung davon, was richtig oder falsch ist. Plötzlich findet man sich in einer zeitverschlingenden Vorhölle aus Entscheidungen wieder, die getroffen werden müssen.
Inhalt
Eine schöne neue Welt: Wahlmöglichkeiten ohne Ende
„Ich war nie in der Lage, mein Leben zu planen. Ich taumle nur von Unentschiedenheit zu Unentschiedenheit.“
Alan Rickman
Sich nicht entscheiden können nervt. Es kostet Energie und jede Menge Zeit. Dass die für jeden Einzelnen vorhandenen Wahlmöglichkeiten in allen Lebensbereichen exorbitant gestiegen sind, steht außer Frage. Aber eine weitere Entwicklung verschärft die Problematik zusätzlich.
Die grundlegenden Wertevorstellungen lösen sich zunehmend auf und stehen mehr oder weniger beliebig nebeneinander. Willkommen auf der dunklen Seite der schönen neuen „Ich-bin-unentschieden-Welt“!
Unzufrieden durch ausufernde Wahlmöglichkeiten
Wenn der Kauf eines Deos zur Raketenwissenschaft mutiert und die Lektüre von Produktrezensionen (bei eher simplen Produkten) Stunden verschlingt, sollte man nachdenklich werden. Studien haben herausgefunden, dass man besonders bei Entscheidungen, die man für sich selbst trifft, eher eine geringe Anzahl an Optionen bevorzugt.
Die US-Psychologin Sheena Iyengar erforschte den sogenannten choice overload effect. Dieser besagt, dass eine große Anzahl an Wahlmöglichkeiten leicht Überforderung auslösen kann. Ob online beim Musik-Streaming oder im Supermarkt beim Einkaufen: die vorhandene Auswahl erschlägt, ist überwältigend.
Es kann sogar passieren, dass wegen des Auswahl-Overkills gar keine Entscheidung getroffen wird. Der Vorsatz, klug zu entscheiden – Verluste vermeiden, Wünsche erfüllen, sich verbessern, wenig Geld auszugeben – kann leicht zur Quadratur des Kreises ausarten. Zeit und Nerven sind als anfallende Kosten auf jeden Fall garantiert.
Soziale Sättigung: Ende des inneren Kompasses
Noch vor wenigen Generationen war es nicht ungewöhnlich, dass Menschen nur wenige Male oder gar nicht ihren Wohnort verlassen haben. Sie standen ihr ganzes Leben mit einer überschaubaren Anzahl anderer Personen in Kontakt. Man kannte sich und wusste, woran man war. Der weitere Lebensweg war ebenfalls oft schon vorherbestimmt: Beruf, Partnerschaft, Familie – es existierte ein verbindliches Regelwerk aus Normen und Werten.
Durch moderne Verkehrsmittel und schließlich das eigene Auto erweiterte sich der Wirkungskreis jedes Einzelnen. Radio, Fernsehen und Telefon verstärkten einen Effekt, den man als soziale Sättigung bezeichnet und der in der Entwicklung des Internets und der sozialen Medien seinen (vorläufigen) Höhepunkt erreicht hat.
Soziale Sättigung bedeutet, dass wir durch Fortschritt – vor allem in Form neuer Kommunikationstechnologien – mit mehr Menschen als je zuvor in Kontakt treten. Welche Auswirkungen auf unser Selbstverständnis hat dies aber?
„Das ganze Konzept des persönlichen Wesens wird in Zweifel gezogen. Das Selbst als Besitzer wahrer und identifizierbarer Charakteristika – wie Rationalität, Gefühl, Inspiration und Willen – wird demontiert. (…) Allgemeiner betrachtet ist der postmoderne Zustand von einer Pluralität von Stimmen gekennzeichnet, die um das Recht auf die Wirklichkeit wetteifern – um als Äußerung des Wahren und Guten akzeptiert zu werden.“
Kenneth J. Gergen
Wenn nun aber eine „Pluralität von Stimmen“ gegeben ist, sind wir jederzeit allen nur denkbaren Lebenskonzepten ausgesetzt. Welchen Partner, Beruf, Wohnort soll ich wählen? Ehe? Kinder? In allen Bereichen ist nahezu alles möglich – und damit auch beliebig geworden. An die Stelle von Sicherheit und Klarheit früherer Generationen sind Unsicherheit und Beliebigkeit getreten.
Was kann man tun?
Wie der Beitrag gezeigt hat, sind ausufernde Wahlmöglichkeiten nicht per se ein Quell von Glück und Zufriedenheit. Vielmehr werden sichere und schnelle Entscheidungen zunehmend erschwert. Immer bleibt ein Restzweifel, ob die mühsam getroffene Wahl wirklich gut war. Vielleicht wartet da draußen noch immer unentdeckt der perfekte Partner, Job oder Schokoriegel?
Der Weg zurück in eine angeblich bessere und weniger komplizierte Vergangenheit ist versperrt – und mal im Ernst: Möchte wirklich jemand die ganzen Einschränkungen und Gefahren früherer Jahrhunderte gegen das bunt-vielfältige Heute eintauschen? Trotzdem gibt es abschließend einige Vorschläge, um mit der Flut an Optionen besser zurechtzukommen.
- Weniger ist – öfter als man denkt – mehr! Mehr Wahlmöglichkeiten bedeuten nicht automatisch mehr Glück oder Freiheit.
- Bewusst die Wahlmöglichkeiten reduzieren! Zum Beispiel bevorzugt in kleineren Geschäften oder Discountern einkaufen, in denen man nicht mit tausenden Artikeln aus den verschiedensten Produktkategorien bombardiert wird.
- Schon vorab möglichst konkrete Vorstellungen entwickeln! Speziell bei Einkäufen vorher einen Plan fassen was man will. Besser als dann ratlos vor 30 verschiedenen Konfitüren zu stehen.
- Schon vorab möglichst wenig konkrete Vorstellungen entwickeln 😉 Siehe dazu den nächsten Punkt.
- Einfach die Dinge so nehmen wie sie kommen! Vollkommene Kontrolle ist eine Illusion. Übermäßig viel Zeit und Energie in sie zu investieren ist dumm.
- Nicht alles um jeden Preis optimieren wollen! Stichwort Pareto-Effekt: Besser auf den wirklich effektiven Teil der Handlungen konzentrieren. Perfektionismus ist keine Stärke sondern eine Schwäche.
- Maßnahmen gegen die soziale Sättigung bzw. Informations-Overkill ergreifen! Internetfreie Tage oder noch besser: bewusste Mediendiät. Mal wieder „echte“ Menschen unter vier Augen oder in kleiner Runde im privaten Rahmen treffen.
- Ein persönliches Werte-Raster erstellen! Es ist enorm hilfreich, sich immer wieder bewusst zu machen, was einem wirklich wertvoll und wichtig ist.
Umgang mit Überfluss lernen
Besonders der letztgenannte Punkt kann langfristig große Veränderungen bewirken. Die Moderne ist von vielfältigen Lebensentwürfen geprägt; man kann nicht mehr wie früher davon ausgehen, dass Gesellschaft, Wirtschaft oder die Medien uns eine maßgeschneiderte Anleitung für die Gestaltung unseres Lebens liefern.
Deshalb ist es von unschätzbarem Wert, sich immer wieder aufs Neue darüber klar zu werden, was für uns wichtig und bedeutend ist. Entscheidungen und konkretes Handeln werden so einfacher und zielgerichteter möglich – und somit auch ein kluger Umgang mit Zeit!
Generell gilt die Devise, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn sich in einer Entscheidungssituation Gefühle von Überforderung und Lähmung breitmachen. Besser innerlich einen Schritt zurücktreten und die oben genannten Punkte durchgehen. Man wird sehen, dass es zunehmend leichter wird, Entscheidungen mit einem angemessenen Zeitaufwand zu treffen.