Ist auch nach Jahren der Aufschieberitis und gestresstem To-do-Listen schreiben ein kluger Umgang mit Zeit erlernbar? Eine Flut von Zeitmanagement-Ratgebern verspricht genau das. Aber wer hat noch nicht die Erfahrung gemacht, dass nach dem Kauf von Ratgebern oder Seminarbesuchen dann doch alles beim Alten geblieben ist? Es braucht für den klugen Umgang mit Zeit mehr als ein Sammelsurium an Zeitmanagement-Techniken, Apps und sonstigen Helferlein. Die durchaus nützlichen Methoden des Zeitmanagements sind nämlich nur ein Teil von drei grundlegenden Bereichen. Neugierig geworden?
Inhalt
Freizeit ohne Ende –
und trotzdem Stress?
„Der rastlose Arbeitsmensch von heute hat tagsüber keine Zeit, sich Gedanken zu machen – und abends ist er zu müde dazu. Alles in allem hält er das für Glück.“
George Bernard Shaw
Stress lass nach! So viel zu tun und meist genau das, wozu man nicht die geringste Lust hat. Die Steuererklärung nervt, das Auto muss in die Werkstatt gebracht werden und die Wohnung benötigt dringend einen Frühjahrsputz. Vom Job ganz zu schweigen.
Im Umkehrschluss bleiben viele Dinge, die einem am Herzen liegen, auf der Strecke. Gute Freunde, Hobbys und sogar die Familie leiden unter der Zeitknappheit. Aber Moment mal. Wird hier nicht auf sehr hohem Niveau gejammert?
Im 19. Jahrhundert arbeitete man in Deutschland zwischen 70 und 80 Stunden – in der Woche! Die Menschen wurden kaum 40 Jahre alt. Kein Auto, Staubsauger und Waschmaschine. Das smarte Home liegt noch in weiter Ferne. Genau wie die 40-Stunden-Woche und fast 80 Jahre Lebenserwartung.
Die Schattenseiten der Moderne
Im Vergleich zu früher haben wir heute Zeit im Überfluss. Trotzdem ist der Satz „Ich habe keine Zeit“ mit schöner Regelmäßigkeit zu vernehmen. Viele haben sogar das Gefühl, ständig unter Zeitdruck zu stehen. Eine (umstrittene) Diagnose dafür wird als „Eilkrankheit“ bezeichnet. Was läuft also falsch? Die Annehmlichkeiten der Gegenwart haben einen Preis, der nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Wenn Fortschritt anstrengend wird
- Viele Erfindungen bringen deutlich weniger Zeitgewinn, als man denken möchte. Autos, Staubsaugerroboter und Elektronik-Gadgets: Wie viele Stunden Zeit müssen für deren Anschaffung, Wartung und Bedienung aufgebracht werden? PS: Wer hätte gedacht, dass die Erfindung von Fensterglas einen Putzwahn auslösen würde?
- Fragen über Fragen: Welche Produkte kaufe ich? Was ist für mich der richtige Partner, Job, Lebensmittelpunkt? In allen Lebensbereichen gibt es immer mehr Wahlmöglichkeiten, die von uns Entscheidungen verlangen. Das kostet Zeit und Kraft. Erstaunlich, aber wahr: Mit weniger Optionen sind Menschen oft zufriedener und vor allem weniger gestresst!
- So wie unsere Wahlmöglichkeiten wachsen, wird die Unsicherheit darüber, was gut und richtig ist, immer größer. Es wird zwar viel über Werte gesprochen, aber wer hat schon wirklich eine Vorstellung davon, was ihm oder ihr „wertvoll“ ist?
- Die Möglichkeiten elektronischer Kommunikation haben den Umfang der verfügbaren Informationen explodieren lassen. Auf der Suche nach qualitativ hochwertigen Infos „verbrennen“ wir viele Stunden unserer Zeit. Und ein großer Teil an News mit äußerst begrenztem Erkenntnisgewinn wird uns ungefragt von Facebook, WhatsApp oder per Mail um die Ohren geschlagen. Es gibt zwar ein Grundrecht auf Informationsfreiheit – aber wer schützt uns vor Info-Bullshit?
- Die Berufswelt ist immer schnellerem Wandel ausgesetzt. Bildung wird als „Ressource“ bezeichnet (was Quatsch ist) und „lebenslanges Lernen“ (was nach Höchststrafe klingt) zur ersten Mitarbeiter- und Bürgerpflicht erhoben. Die einzige Konstante ist der Fokus auf Effizienzsteigerung und weiterer Beschleunigung. Amerikanische Ärzte glaubten sogar, einen neuen Typus von gehetzt-überambitioniertem Arbeitnehmer gefunden zu haben!
Zeitgewinn durch Fortschritt und Innovationen?
Die Punkte machen deutlich, dass viele technische Neuerungen – trotz unbestreitbar positivem Potenzial – problematische Entwicklungen mit sich bringen. Es trifft somit immer weiter perfektionierte Technik auf die immer gleich bleibende Unvollkommenheit des Menschen.
Ich will trotzdem eine optimistische Position vertreten: Menschen können lernen und sich positiv entwickeln. Kluger Umgang mit Zeit ist mit diesen Fähigkeiten erreichbar.
Scheinlösungen: BWLer und Eso-Gurus –
ein Sack voll falscher Versprechungen
Die Liste ließe sich natürlich beliebig fortsetzen. Bereits die genannten Punkte machen klar, dass es immer mehr Menschen gibt, die in einem ständigen Kampf gegen die Uhr liegen. Für die Betroffenen führen anhaltender innerer Zeitdruck oder Eilkrankheit zu krankmachendem Stress. Was kann aber gegen die genannten schädlichen Entwicklungen getan werden?
Aus eigener Erfahrung kann ich versichern, dass die unterschiedlichen Methoden und Ratgeber, die analogen und elektronischen Helferlein nicht halten, was sie versprechen. Die Denkmuster und Methoden der Wirtschaftswissenschaften unreflektiert auf den Menschen zu übertragen, funktioniert nicht.
In der gleichen Zeit immer mehr leisten und alles aus den Perspektiven von Gewinnmaximierung und Effizienz zu betrachten, mag in vielen Bereichen der Wirtschaft funktionieren. Für die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen kann sich diese Logik schnell ins Gegenteil verkehren.
Positives Denken kann schädlich sein!
Ein anderes Extrem wird von den Vertretern des positiven Denkens präsentiert: Man muss die eigenen Gedanken nur von negativen Aspekten „reinigen“ und
sich den gewünschten Zustand vorstellen. Dann verschwinden – wie von Zauberhand – Probleme, Stress und (natürlich) auch Zeitprobleme. Eine schöne Versprechung mit Suchtpotenzial, wie die Seminarbesucher und Leser entsprechender Gurus beweisen. Der Erfolg für die Hilfesuchenden geht allerdings gegen null und kann sogar schädlich sein.
Eines sollte vorab klar sein: Ich will nicht dazu auffordern, ab sofort alle Terminplaner zu verbrennen und sich keine Gedanken über Methoden für mehr Effizienz zu machen. Auch eine grundlegend positiv-optimistische Einstellung ist nicht per se schädlich. Isoliert betrachtet bleibt aber alles nur Stückwerk mit entsprechend geringer Wirkung.
Es hilft alles nichts. Wer besser mit seiner Zeit umgehen will, steht vor sehr großen Herausforderungen. Und zwar in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.
Um Ordnung ins Chaos zu bringen, sind drei große Bereiche hervorzuheben. Kluger Umgang mit Zeit wird nur möglich, wenn alle gemeistert werden. Defizite in einem reichen bereits aus, um in einen permanenten Kampf gegen die Uhr zu verfallen.
Drei Bereiche für eine gute Zeit
Der Titel eines empfehlenswerten Buches von Stefan Klein lautet „Zeit – Der Stoff aus dem das Leben ist“. Im Umkehrschluss müssen wir einen sehr genauen Blick auf unser Leben werfen und fragen: Wie und für was setze ich diesen wertvollen Stoff überhaupt ein?
Drei Betrachtungswinkel ermöglichen eine umfassende Analyse, was unser Verhältnis zu den 86.400 Sekunden des Tages angeht. Die drei Bereiche sind unsere Handlungen, Wahrnehmungen und Leistungsfähigkeit.
Kluger Umgang mit Zeit die Erste:
Handlungen – erkenne dich selbst!
„Die Handlungen sind die Frucht der Gedanken. Waren diese weise, so waren jene erfolgreich.“
Baltasar Gracián y Morales
Der erste – und vermutlich wichtigste – Bereich ist somit unser Handeln. Er beschäftigt sich mit den Fragen:
- Was tue ich? Also eine Bestandsaufnahme aller vernünftigen und weniger schlauen Dinge, mit denen wir unsere Zeit ausfüllen.
- Warum tue ich es? Welche Ziele und Werte spornen mich zu diesem Handeln an? Sind es meine oder fremde Entscheidungen die mich antreiben?
- Wie tue ich es? Die Abteilung für den BWLer in uns. Hier kommen die Methoden für mehr Effizienz zum Zuge: To-do-Listen, Pomodoro Methode und Pareto Prinzip, Getting Things Done, ALPEN-Methode und Co.
Am Anfang steht somit die Bestandsaufnahme (Was tue ich?). Jeder wird mir zustimmen, dass nicht alles, was man den Tag über macht, sinnvoll ist. Und das ist auch gut so. Facebook, Privatfernsehen und Tiefkühlpizza.
Boulevard-Themen genauso wie morgens x-mal die Schlummertaste des Weckers drücken und dann zur Arbeit hetzen, sind nicht wirklich der Weisheit letzter Schluss. Trotzdem: Mensch sein bedeutet Unvollkommenheit und Begrenztheit.
Nichtsdestotrotz ist es kein Fehler, sich die alltäglichen Verhaltensweisen bewusst zu machen (Warum tue ich es?). Besteht das Leben immer mehr aus schädlichem Verhalten, wird das unweigerlich zu Problemen wie schlechter Gesundheit, Unzufriedenheit und Stress führen.
Es schadet daher nicht, einen Qualitäts-Check zu machen: Vertragen sich die Dinge, die ich tue, mit dem was ich wirklich will und was mir wichtig ist? Wo liegen meine Prioritäten? Priorisiere ich überhaupt? Erst wenn diese grundlegenden Fragen geklärt sind, können Methoden für mehr Effizienz sinnvoll zum Einsatz kommen (Wie tue ich es?).
Kluger Umgang mit Zeit die Zweite:
Leistungsfähigkeit – gesunder Körper und Geist
Wer seinen Körper über Jahre schlecht behandelt, bekommt dafür irgendwann die Quittung. Schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und einseitige Belastungen fordern ihren Preis. Schlechte Schlafhygiene reduziert die Leistungsfähigkeit ebenfalls dramatisch.
Was Lebenserwartung und Lebensqualität angeht, summiert sich solches Verhalten in zehntausenden verlorenen Stunden – man gewinnt allerdings reichlich an ungewollten Aufenthalten in Arztpraxen und Krankenhäusern.
Gleiches gilt für unseren Geist. Wer sich exzessiv auf den Müllhalden des Internets herumtreibt und für wen die zentrale Herausforderung seiner Existenz Candy-Crush Highscores sind, wird früher oder später gewisse kognitive Defizite bei sich feststellen. Naja, vermutlich eher früher.
Zur Leistungsfähigkeit gehören auch konkrete Fähigkeiten. Dass diese nicht unbedingt auf dem Niveau der theoretischen Physik liegen müssen, will ich an einem persönlichen Beispiel verdeutlichen. Nachdem ich als Langzeitstudierender schon diverse Hausarbeiten verfasst hatte, stand meine Abschlussarbeit auf der Agenda.
Ich hatte mich zwar schon intensiv mit einer speziellen Literaturverwaltungs-Software (empfehlenswert!) auseinandergesetzt. Allerdings hatte ich es nie für nötig empfunden, mir die 10-Finger-Technik anzueignen (was noch viel empfehlenswerter gewesen wäre!!). Diese Fähigkeit hätte mir wirklich viele, viele Stunden Zeit eingespart und dem Anspruch „kluger Umgang mit Zeit“ entsprochen.
Pausen erhalten die Leistungsfähigkeit!
Bei allen Überlegungen zu körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit sollte nicht vergessen werden, dass Regeneration ein wertvolles und unverzichtbares Mittel zu deren Erhaltung darstellt. Auf den Punkt gebracht: Es braucht Pausen! Nur durch angemessene Phasen der Entspannung verhindert man den Raubbau an Gesundheit und somit auch Leistungsfähigkeit!
Generell sollte man sich deshalb die Frage stellen, welche Veränderungen/Maßnahmen die größten positiven Auswirkungen haben. Hier einige, schon fast banale, Denkanstöße: Für die Finanzen können ein Fahrrad und/oder ein Thermobecher für selbst gekochten Kaffee plus Brotbüchse wahre Wunder bewirken. Und gespartes Geld ist in den meisten Fällen auch gesparte Zeit.
Kluger Umgang mit Zeit die Dritte:
Wahrnehmung – Kontrolle des Zeitflusses
Man kann in gewissem Umfang beeinflussen, ob Zeit schnell oder langsam vergeht. Ganz ohne Einstein und Relativität. Jeder kennt Momente, in denen die Zeit langsamer (Zahnarzt, Zulassungsstelle) oder schneller (Bier mit den Kumpels, Plaudereien mit der besten Freundin) zu vergehen scheint. Ärgerlich, dass die angenehmen Momente immer viel zu schnell verstreichen. Inzwischen sind grundlegende Mechanismen bekannt, die darüber entscheiden, ob die Zeit in unserer Wahrnehmung rast oder schleicht.
- Jeder Mensch hat ein inneres Zeitempfinden. Die jeweilige Situation, in der man sich befindet und die individuellen neurobiologischen Strukturen im Gehirn bestimmen es.
- Das Gehirn ist „plastisch“, das heißt, es kann in jedem Alter noch verändert werden. Deshalb ist es nie zu spät, die Wahrnehmung von Zeit zu beeinflussen.
- Für das Gehirn ist Zeit vor allem Bewegung. Bewegungen sind sehr komplex und erfordern genaues Timing. Beispielsweise beeinflusst die Geschwindigkeit mit der wir atmen unsere Zeitwahrnehmung.
- Aufmerksamkeit und wie viel (was) wir erleben entscheidet ebenfalls darüber, wie wir eine Zeitspanne wahrnehmen. Monotonie und Abwechslung wirken sich jeweils ganz unterschiedlich auf unsere innere(n) Uhr(en) aus.
Fazit:
Kluger Umgang mit Zeit ist möglich!
Und was bringen das Ganze nun letztendlich? Vor allem eine optimistischere Sicht auf die Dinge. Wir haben nicht zu wenig Zeit. Aber wir füllen unsere Zeit oft mit fragwürdigen Dingen aus, die im schlimmsten Fall unserer Lebensqualität ernsthaft schaden. Will man am angespannten Verhältnis zur Zeit etwas ändern, können die aufgezählten Bereiche für Probleme bzw. problematisches Verhalten sensibilisieren. Die regelmäßig erscheinenden Artikel sollen weitere Anregungen liefern. Alle Beiträge stellen Tipps und Denkanstöße dar, die sich in das Große und Ganze einfügen – einem klügeren Umgang mit dem wertvollsten Gut, das wir haben. Unserer Zeit.