Es ist wie verhext: Je besser es uns geht, desto mehr klagen wir über zu wenig Zeit. Es hilft offensichtlich nicht, dass wir länger leben, kürzer arbeiten und der Staubsauger-Roboter an unserer Stelle Staubmäuse jagt. Von der schönen neuen Internet-Welt und ihren Möglichkeiten ganz zu schweigen. Scheinbar haben Fortschritt und Innovationen eher zu einer Verschärfung des gefühlten Zeitmangels geführt. Ist Zeitgewinn durch Fortschritt also nur eine Illusion?
„Wir sehen unsere Kunden wie die geladenen Gäste einer Party, auf der wir die Gastgeber sind.“
Jeff Bezos
Inhalt
Zeitgewinn durch Fortschritt – Wirklich?
In den industrialisierten, weit entwickelten Ländern müssten eigentlich paradiesische Zustände herrschen. Fortschritt und Innovationen nehmen uns einen Großteil der Anstrengungen ab, die in der „guten alten Zeit“ für die meisten Menschen zum Alltag gehörten. Viele Tätigkeiten, die noch vor wenigen Generationen sehr zeitaufwendig und körperlich anstrengend waren, fallen heute kaum noch ins Gewicht.
Wer daran zweifelt, kann gerne die nächste Ladung Wäsche zur Abwechselung per Hand waschen. Autos, Waschmaschinen und Kühlschränke, ganz zu schweigen von dem weltverändernden Potenzial des Internets, machen vieles leichter.
Internationale Konzerne versprechen, dass sie – abgesehen von unserem Geld – ein besseres und leichteres Leben für jeden wollen. Endlich können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, da smarte Innovationen uns von nervigen Routineaufgaben befreien. Automatisch eintretender Zeitgewinn durch Fortschritt ist aber nur die halbe Wahrheit.
Innovationen verleiten zu Perfektion
„Die Menschen verlieren die meiste Zeit damit, dass sie Zeit gewinnen wollen.“
John Steinbeck
Versüßt wird das Diktat der Uhren durch die bereits eingangs erwähnten Annehmlichkeiten. Aber zeitsparende Erfindungen haben auch den Nebeneffekt, dass mit ihnen die Erwartungshaltungen steigen. Es macht sich ein zunehmender Hang zur Perfektion bemerkbar. Beispiele gefällig?
Innovationen mit ungewollten Nebenwirkungen
Mit der Erfindung des Fensterglases kam mehr (Tages-)Licht in die Häuser und Wohnungen. Dadurch wurde Schmutz sichtbar, den zuvor niemand wahrgenommen hatte. Kurzum: Es wurde öfter und gründlicher geputzt. Gleiches galt später für die Erfindung des Staubsaugers: Die Sauberkeitsstandards stiegen immer weiter an.
Ein Auto sorgt für Mobilität; vieles kann mit dem eigenen Wagen schneller und bequemer erledigt werden. Aber wieviele Stunden Arbeitszeit stecken in den Anschaffungs- und Unterhaltskosten? Von den immer noch anzutreffenden Wochenend-Autoputzorgien ganz zu schweigen.
Ein kleiner Fleck auf dem Shirt und es landet sofort in der Waschmaschine. Die Werbung sorgte dafür, dass Wäsche „nicht nur sauber, sondern rein“ sein muss.
In den sozialen Medien hat jeder die Kontrolle über seinen „Auftritt“. Der dauernde Vergleich mit anderen führt dann zu einer permanenten Konkurrenzsituation. „Marketing in eigener Sache“ kostet folglich Unmengen an Zeit und Energie, weil jeder einen glänzenden Onlineauftritt hinlegen möchte.
Unter dem Strich kann man sagen, dass viele Innovationen – trotz anfänglicher Erleichterung – auch zu höheren Ansprüchen führen. Dementsprechend fällt der Zeitgewinn durch Fortschritt kleiner aus, als möglich wäre. Den modernsten Technik-Trends zu folgen bedeutet somit nicht automatisch einen klugen Umgang mit Zeit!
Wachstum und steigender Konsum kosten Zeit
Das Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgelegt, aus diesem Grund ist die Gesellschaft eine Konsumgesellschaft. Um das System zu stützen, muss deshalb auch immer mehr konsumiert werden. Freie Zeit wurde so schleichend zu Konsumzeit.
Tatsächlich ist die Freizeitgestaltung in wohlhabenden Ländern mit erheblichen Ausgaben verbunden. Die uns dauernd vor die Nase gehaltenen Konsum-Leckerlis verdeutlichen das nur zu gut. Natürlich sollen sie unser Leben leichter machen – aber alles hat seinen Preis! Für die Produkte muss Geld ausgegeben und zuvor verdient werden.
Konsum-Hamsterrad wird von den meisten akzeptiert
Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass sich viele Menschen für Schichtarbeit entscheiden, obwohl sie dadurch ihre Gesundheit erheblich stärker belasten. Das zusätzliche Geld und die so ermöglichten zusätzlichen Anschaffungen sind ihnen offensichtlich wichtiger. Wird weder produziert (also gearbeitet) noch konsumiert entsteht schnell ein Gefühl von Zeitverschwendung.
Der Weg in eine Zeitmangelgesellschaft, verursacht durch gesteigerten Konsum und wirtschaftliches Wachstum, wurde übrigens schon in den späten 70ern vorhergesagt. Nahezu jeder Lebensbereich wird von Marketingspezialisten auf Konsumkompatibilität geprüft.
Werbeprofis sind Meister darin, Bedürfnisse zu erzeugen, auf die kein normaler Mensch je von alleine kommen würde. Das führt zur Frage der Fragen: Gibt es akzeptable Alternativen jenseits von Konsumverzicht und Eremitentum?
Was kann man tun? Bewusster Konsum und mehr Gelassenheit
Man sollte auf jeden Fall sehr kritisch mit den Versprechungen der Werbung umgehen, wenn durch den Kauf eines Produkts „X“ eine völlig neue, exorbitant bessere Lebensqualität versprochen wird. Die Frage: „Brauche ich das wirklich?“ greift dabei meiner Meinung nach zu kurz – was braucht man denn schon „wirklich“?
Mit diesem Ansatz kann man nahezu jede Anschaffung infrage stellen, deswegen geht der Erkenntnisgewinn gegen null. Dessen ungeachtet gibt es Strategien, die sich bewährt haben. Drei besonders hilfreiche möchte ich zum Abschluss kurz vorstellen.
(Zeit-)Kosten versus Nutzen
Kosten meint hier sowohl finanziellen, als auch zeitlichen Aufwand. Veranschaulichen wir das Ganze an einem Beispiel. Ein Studierender entschließt sich dazu, seine Abschlussarbeit mithilfe einer speziellen Software zu schreiben.
Für diese muss er 120,- € Lizenzgebühren zahlen; zu allem Überfluss stellt er nach der Installation fest, dass die Software auf seinem Notebook nur schleppend läuft und auch der Bildschirm zu klein ist.
Diese Hürde wird durch die Anschaffung eines Notebooks zum Preis von 500,- € genommen. Etwa zehn Stunden werden in Online-Recherche für das „optimale“ Gerät investiert. Für die Einarbeitung in die umfangreiche Software braucht er gut 20 Stunden.
Die Kostenseite sieht demnach folgendermaßen aus: Der Beispiel-Student hat einen Nebenjob, in dem er 10,- € pro Stunde verdient. Seine Ausgaben betragen 620,- € für die er folglich 62 Stunden arbeiten muss. Hinzu kommen 20 Stunden Einarbeitungszeit und die zehn Recherchestunden. 92 Stunden Zeit müssen somit für die (erhoffte) Arbeitserleichterung in die Waagschale geworfen werden!
Vielleicht doch lieber Oldschool mit Fotokopierer, bunten Klebezetteln und Textmarkern den Abschluss wuppen? Zugegeben, das Beispiel ist etwas konstruiert. Dessen ungeachtet dürfte klar sein, worauf ich hinaus will: Immer so objektiv wie möglich die Zeit-Kosten des Konsums prüfen!
Generell gilt: Egal wie verlockend die Verheißungen eines superhilfreich-Gadgets auch sein mögen – zuerst den Dopaminspiegel zur Ruhe kommen lassen und eine Nacht darüber schlafen. Das zuerst aufflackernde „Das-muss-ich-haben“ ist kein guter Berater für vernünftige Entscheidungen. Mit Gelassenheit und einem halbwegs kühlen Kopf ist es auch in einer Welt voller Konsumverlockungen und schrumpfender Zeitguthaben möglich, gute Entscheidungen für mehr Zeit zu treffen.
Was ist die einfachste ausreichende Lösung?
Wenn ich einen Nagel brauche, macht es wenig Sinn, im Baumarkt das Profi-Heimwerker-Sortiment mit 1000 verschiedenen Schrauben, Nägeln und Haken zu kaufen. Brauche ich im Jahr zwei bis drei Mal eine Bohrmaschine, ist der Kauf eines Hilti-Bohrhammers ebenfalls etwas übertrieben.
Die Alternative: ausleihen! Im ländlichen Raum dürfte jeder jemanden kennen, der gerne weiterhilft. Eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen reichen als Gegenleistung normalerweise aus. In den Städten gibt es diverse Angebote, die das Gleiche leisten und Fremde zusammenbringen (einfach bei Google die Begriffe teilen, tauschen, leihen, sharing eingeben). Oder gleich hier klicken.
Für alle Aufgaben, Herausforderungen und Probleme sollte zuerst überlegt werden, wie eine angemessene, Kosten und zeitsparende, Vorgehensweise aussehen könnte. Nachdenken, googeln, Freunde fragen – das sind deutlich klügere Maßnahmen, als in irgendeinem Fachmarkt auf das superkompetente Personal zu setzen. Man ist ja schließlich nicht blöd 😉
„Das ist gut so!“ statt übertriebenem Perfektionismus
Nein, es ist nicht empfehlendswert, in allen Lebensbereichen nachlässig und schlampig zu sein oder sich gehen zu lassen. Vielmehr möchte ich dazu auffordern, bei vielen alltäglichen Handlungen zu hinterfragen, wie hoch der angemessene Einsatz für eine x-beliebige Tätigkeit sein sollte.
Man kann sein Auto putzen oder den Rasen mähen – man kann aus beidem aber auch eine Wissenschaft machen. Für eine Powerpoint-Präsentation kann man solide arbeiten, indem man gewissenhaft die gröbsten Anfängerfehler vermeidet und ambitioniert arbeitet. Man kann aber auch problemlos stundenlang nach noch besseren Grafiken und Stockfotos suchen.
„Man sollte Ehrgeiz besitzen, ohne von ihm besessen zu sein.“
John Huston
Perfektionismus ist oft nur ein Symptom für mangelndes Selbstwertgefühl. Mit vollkommen überzogenem Einsatz kämpft man dementsprechend immer aufs Neue um die Bestätigung etwas „Wert“ zu sein. Die Quittung ist dann jedoch Stress und Unzufriedenheit. Deutlich sinnvoller ist es, die eigenen Schwächen zu akzeptieren und sich mit der menschlichen Unvollkommenheit zu versöhnen – Perfektionismus ist weder erreichbar noch eine objektive Größe.
Zeitgewinn durch Fortschritt ist möglich
Dass trotzdem nicht alles rosarot und immer besser wird, liegt vor allem an dem Aufeinandertreffen von (an sich) wertneutraler Technologie und unvollkommenen Menschen. Vom Mangel an Selbstdisziplin bis hin zu den unterschiedlichsten Abgründen menschlicher Persönlichkeit reicht das Spektrum letzterer.
Zeitgewinn durch Fortschritt wird erst dann realisiert, wenn man nicht mehr unreflektiert auf jedes beliebige Versprechen der Marketingagenturen anspringt. Nicht jedes „smarte“ Gerät macht das Leben einfacher oder spart wirklich Zeit.
Die Herausforderung liegt darin, die neuen Technologien zwecks mehr Lebensqualität bewusst und somit selektiv einzusetzen. Ohne Zweifel eine große, aber durchaus machbare Herausforderung.