Der Countdown zum Jahresende rückt mit Riesenschritten näher. „Was? Schon wieder ein Jahr vorbei?! Das letzte Bleigießen mit undefinierbaren Schmelzklumpen und einer Brandblase als Bonus kann doch unmöglich schon ein Jahr zurückliegen?“ Woran liegt es, dass die gefühlte Zeit scheinbar immer schneller vergeht? Natürlich hat der Tag für jeden 24 Stunden und das Jahr 365 Tage. Trotzdem verändert sich scheinbar unser Zeitempfinden und eine beunruhigende Tatsache macht sich zunehmend bemerkbar: Die Zeit scheint von Jahr zu Jahr schneller zu vergehen. Ein schleichender Prozess, der vor allem zum Jahresende für Irritation sorgt. Das Jahr ist schon wieder vorbei – wo ist nur die Zeit geblieben?
Inhalt
Wenn sich die gefühlte
Zeit beschleunigt
In der Erinnerung dauerten die Sommerferien länger, als heute ein ganzes Jahr. Tatsächlich zeigte sich in Studien, dass Kinder und Teenager den Zeitfluss deutlich langsamer als Erwachsene wahrnehmen. Um die Sache noch etwas beunruhigender zu machen: Bis zum sechzigsten Lebensjahr kommt es über die Jahrzehnte zu einer als immer schneller wahrgenommenen Zeit.
Aus einem gemütlich dahinfließenden Zeitfluss wird nach und nach ein die Jahre mit sich reißender Strom. Dass dieser Effekt um das sechzigste Lebensjahr ein Plateau erreicht, ist zwar tröstlich, aber nicht wirklich beruhigend. Man stellt sich die Frage, wie und warum es zu diesem veränderten Zeitempfinden kommt und ob es vielleicht Maßnahmen gibt, mit denen man gegensteuern könnte. Schließlich möchte jeder auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken können.
Verändertes Zeitempfinden: Ursachen
Warum werden die gefühlten Jahre im kürzer? Ein Erklärungsversuch für das beschleunigte Zeitempfinden setzt das Jahr ins Verhältnis zur Gesamtlebenszeit. Für einen Zehnjährigen ist ein Lebensjahr ein Zehntel seines gesamten Lebens. Zudem erinnert er sich nicht einmal mehr an die ersten Jahre. Für einen Achtzigjährigen dagegen entspricht das Jahr nur noch einem Achtzigstel. Nach diesem Ansatz relativiert sich ein Jahr in Anbetracht der immer längeren Gesamtlebenszeit.
Das klingt zwar recht plausibel, erklärt aber nicht, warum auch in kürzeren Zeitspannen der Zeitfluss vollkommen unterschiedlich wahrgenommen wird. Jeder wird mir zustimmen, dass die Zeit auf dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes anders als auf einer Party mit Freunden vergeht. Das jeweilige Lebensalter liefert für diese Unterschiede keine plausible Erklärung.
Somit kommen wir zum zweiten Modell der Zeitwahrnehmung. Dieser unter Wissenschaftlern bevorzugte Ansatz weist unseren Erinnerungen die zentrale Rolle hinsichtlich der Wahrnehmung von Zeit zu.
Erinnerungen bestimmen das Zeitempfinden
Für die These, dass unsere bestehenden und vor allem die neu hinzugewonnen Erinnerungen für die Zeitwahrnehmung von entscheidender Bedeutung sind, spricht einiges. Da es keine exakte innere Uhr gibt, die unser bisheriges Leben erfasst, muss das Gehirn improvisieren. Da geschieht in der Form, dass die gefühlte Lebensdauer aus unserem Gedächtnis abgeleitet wird.
Die Vergangenheit existiert nur in unseren Erinnerungen. Die Menge der Erinnerungen ist ausschlaggebend für die „gefühlte“ Zeit. Auf den Punkt gebracht: Werden viele neue, d. h. intensiv-detailreiche Erinnerungen angesammelt, erscheint eine Zeitspanne sehr lange. Genau das ist der Fall, solange wir jung sind.
Verändertes Zeitempfinden:
Kindheit vs. Erwachsenenalter
Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch, dass ein Zeitabschnitt mit wenig neuen Ereignissen im Rückblick viel kürzer wirkt. Weniger neue Erlebnisse bedeutet automatisch auch weniger Erinnerungen. Genau das passiert nahezu jedem im Verlauf des Lebens. Als Kind und Teenager war jeder Tag voller neuer Erfahrungen. Der Urlaub mit den Eltern am Meer, der erste Tag im Kindergarten oder in der Schule.
Die Sommerferien schienen ewig zu dauern. Der erste Kuss – nahezu sicher gefolgt von unerträglichem Liebeskummer. Der Führerschein und das erste Auto. Jedes Jahr war vollgepackt mit zuvor nie da gewesenen Erlebnissen und Herausforderungen.
Als Erwachsener wird das Leben mehr und mehr von Routinen und Vorstellungen durchdrungen. Natürlich haben die ihre Qualitäten. Routinen sorgen für mehr Effizienz und schonen unsere Kräfte. Allerdings blockieren sie in einem oft unbemerkten Prozess unsere Fähigkeit, Neues zu erfahren.
Erfahrungen und Vorstellungen blockieren neue Eindrücke
Durch Erfahrungen sammeln wir Vorstellungen von allen Dingen und Sachverhalten um uns herum. Wer sich etwas vorstellt, stellt dieses konstruierte (und vereinfachte) Bild von realen Sachverhalten zwischen sich und die Realität. Was unter Umständen dazu führen kann, dass von der Realität immer weniger zu uns durchdringt. Vieles wird von den Vorstellungen einfach „weggefiltert“.
Nach 20 Jahren im gleichen Büro und der gleichen Wohnung, mit den immer wieder gleichen Abläufen fehlen dem Gehirn neue Erlebnisse und Eindrücke. Statt der vielen bunten Zäsuren der Jugend erscheint die Erinnerung der Erwachsenen eher wie eine grau-homogene Masse aus gammeliger Routine. Und man fragt sich immer wieder zum Jahresende: „Wo ist nur die Zeit geblieben?“
Belege für die Bedeutung von Erinnerungen
In zugespitzter Form zeigte sich die Bedeutung von Erinnerungen für die Zeitwahrnehmung in den Bunker- und Höhlenexperimenten der 60er und 70er Jahre. Wenn Menschen in vollkommener Isolation untergebracht sind und nahezu nichts passiert, wurden zwei Auswirkungen festgestellt. Im Moment selbst erschien den Probanden die Zeit sehr langsam zu vergehen. Michel Siffre machte diese Erfahrung, als er 61 Tage in einer Höhle verbrachte.
Im Rückblick wirkte der extrem lange Aufenthalt in Isolation deutlich kürzer, als er tatsächlich war. Wegen fehlender Erlebnisse hatten sich auch nur wenige Erinnerungen angesammelt, was den Zeitfluss massiv beschleunigt hatte.
Langeweile und erzwungenes Warten kennt jeder – ganz ohne feucht-kalte Höhle – aus eigener Erfahrung. Wartezeiten beim Arzt oder Behörden ziehen sich wie Kaugummi. In der Retrospektive sind solche Termine kaum existent. Eine Woche mit Erkältung im Bett erscheint im Rückblick eher kurz gewesen zu sein – auch wenn sich die einzelnen Tage wie kleine Ewigkeiten „gedehnt“ haben. Es ist offensichtlich: Wer nichts erlebt, hat auch nichts zu erinnern.
In unvergleichlich treffender Weise hat Thomas Mann im Zauberberg das Phänomen der durch Monotonie verursachten, rasenden Zeit beschrieben:
„Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein.“
Thomas Mann: Der Zauberberg
(Exkurs über den Zeitsinn)
Wie man das Zeitempfinden beeinflusst
Es besteht Hoffnung. Bei Studien hat sich nämlich gezeigt, dass nicht alle Menschen in gleichem Umfang eine Beschleunigung der Zeit erlebten. Auch wissen wir anhand von Versuchen wie dem Höhlenexperiment, was man auf jeden Fall vermeiden sollte: Monotonie!
Weder Routine noch Vorstellungen sind per se schlecht. Erst in dem Moment, in dem sie übermächtig werden und so verhindern, dass neue Erinnerungen gebildet werden, ist die Schwelle zur Monotonie überschritten. Im Idealfall lässt man es erst gar nicht so weit kommen.
Aber wie könnten nun konkrete Handlungsanweisungen aussehen, die dafür sorgen, dass wir auf ausgefüllte Jahre zurückblicken können? Da Menschen sehr unterschiedlich sind und dementsprechend die verschiedensten Vorlieben und Lebensentwürfe verfolgen, ist das keine einfach zu beantwortende Frage. Trotzdem möchte ich einige grundlegende Vorschläge machen.
Neue Erfahrungen machen
Nicht jeder kann oder will mehrmals in seinem Leben den Beruf oder sogar das Land wechseln, um einschneidende neue Erfahrungen zu machen. Es liegt auf der Hand, dass es zwar hin und wieder anstrengend aber auch ein Segen ist, in einer modernen Industrienation geboren zu sein. Die Möglichkeiten für neue Erfahrungen zu sorgen sind so umfangreich, dass sie für mehr als ein Leben reichen würden.
- Reisen: Und zwar nicht im Stil von All-Inclusive-Cluburlaub! Besser mit offenen Augen das Neue (möglichst unvoreingenommen) wahrnehmen. Dann bildet Reisen wirklich und sorgt für intensive Erinnerungen. Besser mal gegrillte Insekten als immer wieder Schnitzel.
- Lernen: Wer durch die Erfahrungen aus Schulzeit und Ausbildung noch immer geschädigt ist, sollte dem Format eine neue Chance geben. Lernen muss nicht immer in Kosten-Nutzen-Relationen bewertet werden. Man sollte sich ab und zu daran erinnern, wie es sich als Kind anfühlte, wenn man etwas Neues gelernt hatte und sagen konnte: „Ich kann es!“
- Abwechslung: Weder muss es im Vier-Jahres-Rhythmus ein neues Auto, noch ein neuer Wohnort oder Partner sein. Alltägliche, in Routine eingewebte Dinge können neu entdeckt werden. Das zu schaffen sollte sich jeder zur Herausforderung machen, der den Fluss der Zeit verlangsamen will.
- Aufmerksamkeit: Immer wieder kann man sich dabei ertappen, wie man innere Monologe führt. Oft drehen sich diese um Probleme oder alternativ auch Wunschträume. Jeder kennt dieses wiederkehrende Gedankenkarussell. Für eine erfülltere Zeitwahrnehmung ist es sinnvoller, die Umgebung (Natur, Gegenstände, Menschen) immer wieder mit bewusster Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Während die inneren Monologe kaum Erinnerungen erzeugen, ist Aufmerksamkeit ein zentrales Element für neue „Einträge“ im Gehirn.
Fazit
Vor allem steht uns die eigene Bequemlichkeit im Weg. Aber es ist unumgänglich, sich zu fordern und die Komfortzone zu verlassen. Ein durchaus fairer Preis, der zu zahlen ist, wie ich meine. Nur so ist es möglich, immer neue Erinnerungen zu erzeugen und den Strom der Zeit zu bändigen.